»Ja. Er spürt, wo ich bin ...«
Der Polizist mit den vielen Zischlauten im Namen setzte sich in Richtung Zollstelle in Bewegung.
»Offenbar will Krzysztof mir Zeit geben«, vermutete Marta. Sie sah mich an und biss sich auf die Lippe. »Aus deinen Plänen auszuschlafen wird nichts«, konstatierte sie seufzend. »So leid’s mir tut.«
»Wird er mich entkommen lassen?«, fragte ich mit einem Nicken hin zu dem Polizisten.
»Nein. Es ist seine Funktion, Verbrecher zu schnappen.« Marta erhob sich und griff nach meiner Hand. »Komm mit ...«
Umgehend schoss ein aufgelöster Keller auf uns zu. Ich verstand zwar nicht, was er sagte, entnahm dem Ton jedoch, dass er befürchtete, Marta und ich seien mit dem Essen nicht zufrieden. Marta setzte ihm in schnellen Worten etwas auseinander, woraufhin der Kellner uns eine dem Personal vorbehaltene Tür öffnete. Über eine schmale, ausgetretene Treppe erreichten wir das Erdgeschoss und hasteten einen Gang entlang, vorbei an der Küche, in der Geschirr klapperte und verführerische Düfte lockten. Der Kellner schaute uns nach. Die nächste Tür - in den Hinterhof - war nicht abgeschlossen. An einem Müllcontainer streunte ein herrenloser Hund herum und untersuchte mit der Pfote einen auf eine Zeitung gelegten Haufen Essensreste. Hier roch es schon anders. Säuerlich. Selbst der Nieselregen schaffte es nicht, diesen Gestank zu besiegen. In der Nähe lag ein relativ schmaler Fluss mit einer steinernen Promenade und einer übermäßig breiten Brücke, als solle der Fluss noch in sie hineinwachsen.
»Dahin!« Marta wies kurz entschlossen auf die Brücke.
»Krzysztofs Leine ist fast bis zum Äußersten gespannt. Sieh zu, dass du noch einen Kilometer weiterkommst, dann kriegt er dich nicht mehr.«
»Und dann?«, fragte ich. »Ich habe kein Geld, keine Papiere ...«
Marta versenkte die Hand in der Tasche. Sie kramte eine Unmenge Münzen und ein schmales, von einer silbernen Büroklammer zusammengehaltenes Bündel Scheine heraus. Dazu packte sie noch das eingedrückte Päckchen Zigaretten und ihr Feuerzeug.
»Reich einem Russen den kleinen Finger, und er nimmt gleich die ganze Hand.«, grummelte sie. »Hier!«
»Behalt das Geld ... Du musst ja noch bezahlen.« »Die kennen mich. Schlag hier keine Wurzeln! Mach, dass du wegkommst!«
»Sag mir doch wenigstens, wie weiter!« Etwas Nassforsches oder Stures regte sich mit einem Mal in mir. »Wohin soll ich denn gehen?«
»Über die Brücke!« Marta nickte in die Richtung. »Schlag dich zum Bahnhof durch, setzt dich in den Zug und fahr nach Gdañsk! Da gibt es drei Portale, durch die du in dein Moskau gelangst, aber auch an jeden x-beliebigen anderen Ort! Lauf jetzt!«
»Was ist das bloß für ein Tag, dass mich schon die zweite Frau fortjagt!«, rief ich fast ernsthaft aus. »Danke ... Irgendwann komme ich zurück. Ganz bestimmt. Und dann bin ich dran, dich in ein Restaurant einzuladen.«
Sie zuckte bloß mit den Achseln. Verflixt noch mal, mir passte der Rhythmus des heutigen Tages wirklich nicht. Und ich hätte es weiß Gott vorgezogen, mich auf eine andere Art von Marta zu verabschieden!
Doch es wäre dumm gewesen, den Abschied noch weiter hinauszuzögern.
Deshalb drehte ich mich um und lief zur Brücke. Der Hund, der sich aus den Resten den appetitlichsten Happen ausgesucht hatte, kläffte mir mit vollem Maul nach.
O nein, das war heute mit Sicherheit nicht mein Tag. Nie zuvor hatte mich ein Hund angebellt, nicht mal ein herrenloser. Immer hatten sie gespürt, dass ich sie liebe!
Die Brücke wirkte für diesen kleinen Fluss und dieses kleine Städtchen wirklich zu breit und zu pompös. Genau wie die riesige katholische Kirche, die sich unversehens zu meiner Rechten erhob.
Ob darin das europäische Geheimnis bestand, das Russland ewig verschlossen blieb? Alles immer ein klein wenig besser zu machen als notwendig. Größer. Solider. Schöner.
Während ich über die Brücke eilte, gestattete ich mir einen Blick zurück. Marta war schon weg, bestimmt war sie ins Restaurant zurückgekehrt. Ob sie versuchen würde, den Polizisten aufzuhalten? Hmm. Wenn, dann nicht sehr nachdrücklich. Vielleicht würde sie zwei, drei Minuten mit ihm plaudern. Möglicherweise hatte der Polizist selbst ja gar kein Interesse daran, mich zu schnappen, und es war bloß seine Funktion, die ihn zur Jagd auf mich antrieb. Vielleicht gönnte er sich eine kleine Pause. Oder ließ es ganz bleiben. Andererseits: Ich war erstens ein Russe, den man in Polen ohnehin nicht allzu gern sah. Und zweitens ein flüchtiges Funktional, was meiner Popularität ebenfalls keinen Auftrieb gab.
Obwohl ausgerechnet der Mord an der Hebamme mir einen Vorteil verschaffte. Die mochte, wie sich erwies, niemand. Nirgends.
Die Stadt war in der Tat klein, unmittelbar hinter der Brücke begannen bereits Felder, die entweder tatsächlich aufgegeben worden waren, weil sich der Boden als unfruchtbar herausgestellt hatte, oder jetzt im Herbst einfach nur diesen Eindruck erweckten. Ganz wie in Russland rostete ein Haufen Schrott vor sich hin, etwas weiter weg lagen alte Reifen und verfaulte Bretter. Aber der Weg, der durch die Felder führte, war makellos asphaltiert, ideal für einen Sprint. Meine durchgeweichte Kleidung hatte Marta gegen Sachen eingetauscht, wie sie sie auch selbst trug: Jeans, Turnschuhe, ein dickes kariertes Hemd, die ländliche Uniform des 21. Jahrhunderts. Wer solche Sachen trug, wurde nolens volens zum Unsichtbaren. Und obwohl alle Stücke die Logos bekannter Firmen zierten, wirkten sie, als seien sie in Polen hergestellt.
Im leichten Trab bewegte ich mich über die mondbeschienene Straße vorwärts, immer weiter von der Stadt weg. In der Ferne leuchteten die Straßenlaternen wie eine Girlande zu Silvester. Hier musste eine Autobahn oder ein Gleis entlangführen. Die kalte Luft war sauber und süß, mit einem bitteren Hauch von alten Blättern und eines Feuers, irgendwo weitab. Eine solche Luft gibt es nur in einer Herbstnacht fern der Stadt.
Es lag etwas Unangenehmes, eine Art Déjà-vu, in diesem nächtlichen Lauf. Illan fiel mir ein, die vor Zei geflohen war. Und ich selbst, wie ich mich vor nur vierundzwanzig Stunden (kaum zu glauben!) vor den Spezialeinheiten Arkans in Sicherheit gebracht hatte.
Ich wechselte in Schritttempo über und zündete mir eine Zigarette an. Allem Anschein nach hatte Marta den hiesigen Polizisten überredet, keinen allzu großen Eifer an den Tag zu legen. Eine Zeit lang marschierte ich in Richtung der Straßenlaternen, rauchend und darüber nachdenkend, wohin ich jetzt eigentlich gehen sollte, nach Danzig oder besser gleich nach Warschau, wo es vermutlich mehr Zollstellen gab. Denn ohne Pass und Visum konnte ich es mir abschminken, über eine normale Grenze der Menschen zu gehen. Es sei denn, ich griff auf den Trick der Agenten aus den alten Filmen zurück und band mir Hufe von Kühen an Füße und Hände, um auf allen vieren den Kontrollstreifen hinter mich zu bringen...
Oh, oh! Es heißt doch wahrlich nicht umsonst, Rauchen schade der Gesundheit! Dass ich mich jetzt umdrehte, war nämlich reiner Zufall.
Der Herr Polizist mit dem sehr polnischen Vor- und Zunamen machte diesem alle Ehre, sah er doch aus wie ein Pan aus alten Karikaturen oder Illustrationen. Untersetzt, mit einem kleinen Bäuchlein, einem buschigen Schnurrbart und kurzen Beinen.
Des ungeachtet stürzte er mir in der altbekannten mechanischen Manier eines Polizistenfunktionals hinterher.
Ich gab Fersengeld. Meine nicht zu Ende gerauchte Zigarette flog in den Sand, der Wind kam mir gar nicht mehr kalt vor, sondern heiß. Ich Idiot! Dämlack! Was musste ich auch gemütlich vor mich hinschlendern?!
»He! He, Mann!«
Die Stimme klang weit weg. Ich drehte mich im Lauf um - und blieb stehen.
Pan Krzysztof Przebyżyński hatte mitten auf der Straße haltgemacht, als sei er voller Wucht gegen eine unsichtbare Mauer gerannt.