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Ich rückte genau in dem Moment rüber zum Fenster, als der Bahnsteig erzitterte und langsam dahinfloss. Jetzt fuhr ich also nach Charkow. Wozu? Hatte ich in der letzten Woche etwa noch nicht genug Abenteuer erlebt? Aber was heißt in der letzten Woche? Allein in den letzten vierundzwanzig Stunden wäre ich beinah dreimal umgebracht worden!

»Moskauer?«, erkundigte sich Sascha.

»Was?« In meine Gedanken versunken, hatte ich seine Frage nicht auf Anhieb verstanden. »Äh, ja, Moskauer.«

»Ich auch«, teilte mir mein Reisegefährte in einem Ton mit, als gebe er mir ein Losungswort.

»Geschäftlich unterwegs?«, fragte ich. Im Grunde interessierten mich seine Belange überhaupt nicht. Aber irgendwie musste das Gespräch ja am Laufen gehalten werden, vor allem wenn dein Gegenüber dich auf ein Bier einlud.

»Eigentlich ... nicht ganz.« Sascha schien sich die Sache erst mal durch den Kopf gehen lassen zu müssen. »Obwohl man es auch so ausdrücken könnte.«

»Also geht’s um Politik?«, vermutete ich mit düstersten Vorahnungen.

»In gewisser Weise.« Sascha lachte. »Letztendlich haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Kirill. Ein Mittelding zwischen Politik und Geschäften. Ich arbeite bei einer staatlichen Institution. Mache sozusagen ein bisschen Bürokratie. Mit dem politischen Unsinn beschäftige ich mich natürlich nicht. Das sollen die Politiker schön selbst erledigen. Wir sorgen dafür, dass die Staatsmaschinerie am Rollen bleibt, die Züge fahren, das Korn gedeiht, die Grenzen unter Verschluss sind! Zu Sowjetzeiten nannte man Leute wie uns Funktionäre.«

Ich trank einen Schluck Bier und stellte die Flasche ab. Ein Funktionär also ...

»Und Sie, Kirill? Arbeiten Sie? Studieren Sie?«, fragte Sascha. Allmählich platzte mir der Kragen. Musste ich mir wirklich von einem Mann, der höchstens ein Jahr älter war als ich, derart gönnerhafte Fragen gefallen lassen? Arbeiten Sie? Studieren Sie?

»Ich bin vorübergehend arbeitslos«, antwortete ich.

»Sie sollten sagen: Im Moment suche ich Arbeit«, korrigierte mich Sascha. »Das klingt besser, glauben Sie mir. Und was machen Sie beruflich?«

»Ich? Ich bin ein Funktional«, blaffte ich ihn an. Was bildete der sich eigentlich ein, einen Unbekannten in diesem Ton zu belehren?! Diese Unverfrorenheit bildete sich anscheinend bei allen Beamten heraus. ›Mache ein bisschen Bürokratie.‹ Damit das Korn unter Verschluss ist, die Züge gedeihen und die Grenzen fahren ...

»Und was für ein Funktional - falls die Frage gestattet ist?«, erkundigte sich Sascha, wobei ich nun in seiner Stimme echte Neugier heraushörte. »Ich habe noch nie ein Funktional getroffen, das reisen konnte!«

Wir starrten einander an. In meinen Schläfen pochte es.

»Sie wissen etwas über Funktionale?«, hauchte ich. »Selbstverständlich«, antwortete Sascha gelassen. »In ihrem Metier sind sie unübertroffene Meister, dafür aber an ihre Funktion gekettet. Sie können sich nicht weiter als zehn, fünfzehn Kilometer von ihr entfernen. Mein Friseur ist ein Funktional, sein Salon befindet sich in der Nähe der Metrostation Tschistyje Prudy.«

»Sie wissen also über Funktionale Bescheid?«, wiederholte ich wie vor den Kopf geschlagen.

Warum wunderte ich mich bloß so darüber? Immerhin hatte ich doch einige Tage als Zöllnerfunktional gearbeitet, und durch meinen Turm waren Politiker, Geschäftsleute und junge Popstars mit ihrem Gefolge von einer Welt in eine andere spaziert. Meinem Inspektionskomitee hatten ein Politiker und ein Komiker angehört. Dieses Spektrum hätte mir doch zeigen müssen, dass in Moskau einige hundert, vielleicht sogar einige tausend ganz normale Menschen über Funktionale Bescheid wussten. Wer es an die Spitze der Regierung, der Geschäftswelt oder der Populärkultur geschafft hatte, war eingeweiht. Und dieser junge Kerl gehörte nicht zum Fußvolk, das war auf den ersten Blick klar.

»Natürlich weiß ich Bescheid!« Sascha lachte. »Aber wie kann ich Ihnen das beweisen? Soll ich Ihnen die Zollstellen aufzählen, die es in Moskau gibt?«

»Nennen Sie mir lieber ein paar andere Welten, die Sie schon besucht haben.«

»Veros!«, antwortete Sascha wie aus der Pistole geschossen.

»So eine Welt gibt es nicht!«, kanzelte ich ihn voller Genugtuung ab.

»Was heißt das - die gibt es nicht? Das ist die Welt mit den Stadtstaaten. Die mit diesem komischen Feudalismus und den Dampfmaschinen ...« Er schnippte mit den Fingern. »Dort, wo Nut, Kimgim und Ganzser liegen.«

Ich nickte. Ach ja, natürlich. Meine Zollstelle hatte auch über einen Zugang in den Stadtstaat Kimgim verfügt. Eine sehr beschauliche Stadt. Und daneben gab es noch Tausende von anderen Stadtstaaten ...

»Ich glaube Ihnen«, versicherte ich.

»Dann gibt es noch das Reservat«, zählte Sascha weiter auf. »Ferner ...«

»Wie gesagt, ich glaube Ihnen!« Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Bier. »Wirklich. Das kommt nur alles etwas überraschend.«

»Was sind Sie denn nun für ein Funktional?«, fragte Sascha mit ungebrochener Neugier noch einmal. »Verzeihen Sie mir, wenn ich so bohre, denn wenn Sie nicht darüber sprechen wollen ...«

»Ich bin Zöllner«, erklärte ich. Wobei ich mir den Vorsatz »ehemaliger« sparte.

»Und Sie können reisen?«

»Ja.«

»Nicht zu fassen!« Über die Existenz der Funktionale an sich wunderte sich Sascha jedoch kein bisschen. »Das sollte uns doch ein Gläschen wert sein, oder?«

Seine Hand tauchte im Koffer ab, und er zog mit der Geste eines Zauberkünstlers eine Flasche Martell hervor.

Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, besser nicht. Morgen früh steht uns der Zoll bevor.«

»Sie sind mir ein Spaßvogel!« Sascha brach in Gelächter aus. »Ein Funktional, das sich vorm Zoll fürchtet ...« Dann wurde er wieder ernst. »Grenzen und Zoll ... ständig ziehen wir Mauern hoch. Das schadet doch nur den einfachen Menschen, hält Verbrecher aber bestimmt nicht auf ... Wer also braucht all diese Schranken?«

Es war schon komisch. Das schien seine ehrliche Meinung zu sein, und ich konnte seinen Worten nur zustimmen. Trotzdem klang es irgendwie kalkuliert, als halte er vom Podium aus eine Rede. Unwillkürlich fiel mir der Politiker Dima ein.

Ob das bei allen von ihnen so war? Dieses professionelle Getue?

»Stimmt, die braucht niemand«, pflichtete ich ihm bei.

»Nehmen wir zum Beispiel einmal Veros. Obwohl es eine Art Flickenteppich ist, verzichtet es im Grunde auf richtige Grenzen zwischen den einzelnen Ländern«, fuhr Sascha fort, während er geschickt das marinierte Fleisch zerteilte. »Eine zauberhafte, anheimelnde kleine Welt. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, ganz dorthin überzusiedeln.«

»Wie haben Sie eigentlich etwas über die Funktionale erfahren?«, wollte ich wissen. »Oder über die anderen Welten?«

»Das bringt meine Position mit sich.« Sascha grinste breit. »Als ich zum Referenten von Pjotr Petrowitsch geworden bin, hat er mich davon in Kenntnis gesetzt. Was blieb ihm auch anderes übrig? Schließlich verlangt der Beruf, dass ich ihn überallhin begleite.«

Wenn ich mich nicht irrte, kam es in seinen Ausführungen vor allem auf den »Referenten von Pjotr Petrowitsch« an. Genau das war das Stichwort, anhand dessen die Einteilung in »unsere Leute« und »alle anderen« vorgenommen wurde. Als Funktional musste mir der Name etwas sagen und ich entsprechend reagieren.

»Wie geht es ihm denn?«, fragte ich, ohne zu präzisieren, wen ich meinte. »Besser?«

Vermutlich handelte es sich bei dem mysteriösen Pjotr Petrowitsch, dem etatmäßig ein paar vertrauenswürdige Referenten zustanden, um einen mindestens fünfzigjährigen Mann. Und in dem Alter gibt es keine kerngesunden Männer, schon gar nicht unter den Beamten im Grenzbereich von Politik und Wirtschaft.