Es war allerdings niemand da, der mich hätte angucken können, denn die drei Polizisten lagen immer noch kreuz und quer am Boden.
»Warum musste es denn so primitiv sein?«, fragte ich gallig. »Mit einer Holzlatte über die Birne ... bei deinen Möglichkeiten ... als Kurator?«
»Was haben meine Möglichkeiten damit zu tun?« Kotja warf den Knüppel weg. »Es gibt nichts Zuverlässigeres als einen Holzknüppel! Wenn du mir nicht glaubst, warte, bis sie aufwachen, und frag sie selbst!«
»Das ... spare ich mir ...« Ich versuchte aufzustehen, doch ohne Kotjas Arm ging es nicht. »Mist! Mein Bein ist ganz steif.«
»Entschuldigst du dich bei mir, dass du mich so angepflaumt hast?«, fragte Kotja.
»Niemals! Schließlich wolltest du mich ersticken!«
»Hab ich’s mir doch gleich gedacht ...« Kotja machte eine Handbewegung, und vor ihm erschien in der Luft ein sonderbarer leuchtender Schriftzug. »Gehen wir!«
»Und wohin bitte schön?«, tat ich immer noch unerschrocken, obwohl die Polizistin bereits stöhnte und sich rührte.
»Zu mir nach Hause.«
Eine andere Wahl blieb mir nicht. Ich stützte mich fester auf Kotjas Schulter und tat einen Schritt hinein in die grün lodernden Feuerbuchstaben, diese futuristische Werbung.
Sechs
Nirgends erfährt man so viel über einen Menschen wie in seiner Wohnung. Ich hatte mal einen Bekannten, den alle für einen ausgemachten Hallodri hielten. Er konnte sich eine Woche lang auf Partys herumtreiben, sich in Gesellschaft von völlig Unbekannten bestens amüsieren, auf dem Boden unter einer schmutzigen Zudecke schlafen, sich von Sprotten in Tomatensoße ernähren und von Zwieback, der vom Vorjahr und schon verschimmelt war. Dennoch bewahrte er sich ein gepflegtes Äußeres und gab sich nie dem Suff hin, sodass sein Verhalten von allen einer erstaunlich spartanischen Haltung in Alltagsdingen zugeschrieben wurde.
Wer malt sich da meine Überraschung aus, als ich ihn das erste Mal zu Hause besuchte? Die kleine Zweizimmerwohnung, die mein Freund von seiner in hohen Jahren verstorbenen Großmutter geerbt hatte, war liebevoll renoviert worden, zugegeben, nicht nach europäischem Standard, was ihn teurer als die Wohnung selbst zu stehen gekommen wäre, aber doch ganz anständig und so, dass man nicht gleich auf den Einfall einer Brigade besoffener Handwerker aus Moldawien schloss. Doppelfenster mit teuren Rahmen aus Holz, ein einfacher Boden, aber mit Parkett, nicht mit irgendeinem Laminat, zudem nicht lackiert, sondern gewachst. Alles war modern, penibel und geschmackvoll ausgeführt, man hätte meinen können, hier wohne ein junger begabter Designer, nicht aber ein Journalist, der in Computerzeitschriften über Hardware schrieb. In der Küche verblüffte ein riesiger Herd mit höchst ausgebufften Knöpfen und ausladender Abzugshaube, die ganz offenkundig nicht nur der Zierde diente. Dem Ganzen die Krone setzte das Porträt seiner Oma auf, eine durchaus talentvolle Tempera-Arbeit, die in einem schönen Rahmen an der Wand hing. Bei dem Porträt handelte es sich um ein Werk des »Hallodris«.
Danach nahm ich mir vor, nie wieder über einen Menschen zu urteilen, bevor ich ihn nicht zu Hause besucht hatte.
Bei Kotja war ich schon öfter gewesen, weshalb ich zutiefst überzeugt war, ihn in- und auswendig zu kennen. Andererseits: Durfte ich dergleichen überhaupt noch behaupten, nachdem sich mein langjähriger Freund als Funktional, ja mehr noch, als Kurator und damit als Oberfunktional der Erde herausgestellt hatte?
Warum auch immer, jedenfalls war ich mir sicher, dass wir nicht in Kotjas Moskauer Wohnung landen würden, sondern an einem völlig anderen Ort. Und diesmal täuschte mein Vorgefühl mich nicht.
Der Raumverschiebung selbst haftete nichts Besonderes an. Es war, als ob ich durch eine offene Tür ginge oder durch ein Zollportal in eine andere Welt gelangte. Keinerlei entsetzliche Qualen, aber auch keine paradiesischen Wonnen, wie sie nach Ansicht einschlägiger Schriftsteller die Teleportation, den Hypersprung oder andere fiktive Methoden des Ortswechsels begleiten.
Wir verschwanden schlicht von der Straße in der Nähe der polnischen Kleinstadt Elblag und tauchten an einem anderen Ort wieder auf.
Zu fluchen ist nicht gerade meine Leidenschaft.
Aber jetzt fluchte ich, und zwar sowohl wegen der Überraschung als auch wegen des ekelhaften Drucks in meinen Ohren. Ich musste ein paar Mal inbrünstig gähnen, um sie wieder freizukriegen. Der erfahrene Kotja war dagegen, wie ich festgestellt hatte, mit weit offenem Mund durch den Raum gereist.
Wir standen mitten in einem runden Marmorpavillon. Über uns wölbte sich eine Kuppel, die aus derart feinem weißem Marmor bestand, dass sie wie Milchglas schimmerte. Die Kuppel ruhte auf dunkelgrünen Säulen, um die sich spiralförmig Schnitzerei wand. Der Boden war ebenfalls aus Marmor, aus weiß-grünem.
Am meisten frappierte mich jedoch die Landschaft, die uns umgab.
Riesenhohe Berge, auf deren Gipfeln Schneemützen saßen. Die untergehende Sonne ließ die zarten Flocken der Wolken rosa, fliederfarben und violett schimmern. Die Luft war kalt und dünn.
»Wo sind wir denn hier, auf dem Mars?«, fragte ich. »Tja, das musst du entscheiden, ich bin da noch nie gewesen«, grummelte Kotja. »Mist! ... Was für eine Schweinekälte! ... Mann, das ist Tibet!«
»Shambala vielleicht?«, versuchte ich wieder zu witzeln.
»Ja.« Kotja nickte. »Gehen wir ... Hier frieren wir uns alles ab!«
Die Kälte drang uns in der Tat bis in die Knochen. Mich nach wie vor auf Kotja stützend, humpelte ich aus dem Pavillon. Den steilen Hang führte eine Steintreppe hinunter, die in ein kleines Tal zwischen den Felswänden mündete. Dort ließen sich mehrere von einer hohen Mauer gesäumte Gebäude erahnen. Sie waren aus roten, von der Zeit zerfressenen Steinen errichtet und hatten schmale, an Schießscharten erinnernde Fenster. War das ein buddhistisches Kloster?
»Ist das ein Kloster?«, fragte ich.
»Nicht ganz. Es ist die offizielle Residenz des Kurators in unserer Welt.«
Ich starrte Kotja an und schüttelte den Kopf. »Und du bist doch ein Arschloch ...«
»Und wieso?«
»Als ob du nicht wüsstest, dass ich immer davon geträumt habe, mal nach Tibet zu kommen!«
Kotja zeigte mir einen Vogel. »Du tickst echt nicht mehr richtig. Gehen wir runter, ansonsten ist dein erster Besuch in Tibet auch dein letzter.«
Auf seine Schulter gestützt, humpelte ich die Treppe runter. Kotja schnaufte und ächzte, als ob er nicht über die Kräfte eines Funktionals verfügte. Was für ein Meister der Verstellung!
In dem Moment bemerkte ich, dass ich weder sauer noch wütend auf ihn war. Fast, als hätte er nie versucht, mich umzubringen. Fast, als wäre er nicht für dieses ganze Chaos verantwortlich, in das meine Freunde und ich geschlittert waren.
Und war er denn wirklich dafür verantwortlich?
Woher wollte ich wissen, was ein Kurator eigentlich machte? Was er konnte und was nicht? An welcher Leine er ging?
»Kotja, wir müssen ernsthaft miteinander reden«, kündigte ich an.
»Das müssen wir wohl«, räumte Kotja in schuldbewusstem Ton ein. »Und ich werde mich nicht dagegen sträuben ...«
»Andernfalls würde ich dir auch derart eins überziehen, dass du von Tibet nach Peking fliegst«, ließ ich meiner Phantasie freien Lauf. Mir entging jedoch nicht, wie Kotja zusammenzuckte. »Was ist, hast du etwa Angst vor mir?«
»Ja«, gestand Kotja. »Warum hast du diesen Polacken eigentlich keins übergebraten? So wie mir damals, im Auto?«
»Selbstverständlich um keine internationalen Konflikte auszulösen. Damit Spannungen überhaupt gar nicht erst aufkommen. Damit niemand beleidigt ist.«
»In dem Fall bitte ich vielmals um Entschuldigung«, blaffte Kotja. »Diese hehren Absichten waren mir leider nicht bekannt, sonst hätte ich dich nämlich da auf der Straße stehen lassen ... Pass doch auf, wo du hintrittst!«