Ich rutschte auf einer der vereisten Stufen aus und wäre beinahe hinuntergepurzelt. Kotja konnte mich nur mit Mühe abfangen. Er blieb kurz stehen. »Wo stecken eigentlich diese Idioten?«, sagte er. »Drehen die schon wieder ihre Mühlen? Dabei habe ich doch ausdrücklich angeordnet, dass sie sich um den Pavillon kümmern sollen ...«
»Was für Idioten? Was für Mühlen?«, wollte ich wissen.
Wie als Antwort auf meine Frage flogen die Türen des größten Gebäudes auf. Gleich orangefarbenen Apfelsinen schossen aus ihm dicke Männer in schlichten Togen heraus.
»Ich habe doch gewusst, dass das ein Kloster ist!«, fuhr ich Kotja an.
»Und ich habe gesagt: Nicht ganz«, konterte Kotja.
»Aber sie müssen sich doch irgendwie beschäftigen, oder? Schließlich bin ich für sie eine Art ...«
»Buddha?«, fragte ich neugierig.
»Nein. Aber ein Rechtschaffener, der ihm äußerst nahe kommt«, erklärte Kotja stolz.
»Verstehe. Ein Rechtschaffener. Das Mädchen und ihr Hund«, murmelte ich halblaut.
»Was?«
»Nichts, schon gut. Du bist also ein Rechtschaffener ... Einzelunterricht.«
Diesmal bekam Kotja mit, was ich sagte. Zu meiner Überraschung brachte ihn die Anspielung sogar in Verlegenheit.
Inzwischen näherten sich uns die Mönche mit ihren leuchtenden, geschorenen Köpfen. Die orangenen Togen schienen in der Abenddämmerung förmlich zu strahlen.
»Wie lange brauchen die denn noch?« Kotja winkte sie heran. Er rief ihnen mit kehliger Stimme etwas zu, erhielt eine Antwort, und einige der Mönche wuselten zurück ins Haus. »Ich habe die Aufgewecktesten von ihnen losgeschickt, um uns ein heißes Bad vorzubereiten«, informierte mich Kotja. »Ich weiß ja nicht, wie es bei dir steht, aber ich bin total durchgefroren.«
Etwa eine halbe Stunde später saß ich in einem hohen Holzkübel bis zum Hals im warmen Wasser und trank aus einer Tonschale ein kochend heißes Getränk, das Kotja als tibetanischen Tee bezeichnet hatte. Dem Aussehen nach erinnerte diese braun-grüne ölige Brühe eher an Matsch. Vom Geschmack her ... konnte sie als starker Tee durchgehen, in den jemand großzügig Fett und Salz gegeben und anschließend alles zu einem dickflüssigen Brei verrührt hatte. Ich war mir sicher, dass ich zu Hause keinen einzigen Schluck von dem Zeug heruntergekriegt hätte. Nicht mal aus Neugier. Nicht mal in einem dieser angesagten Restaurants.
Hier brachte ich das Getränk jedoch runter. Sogar mit Genuss.
Neben mir stand noch ein Kübel, in dem Kotja saß, mit einer identischen Schale in Händen. Er trank seinen Tee schmatzend und mit einem begeisterten Schnaufen, das mir ein wenig übertrieben vorkam.
Der Raum, in dem unsere »Wannen« standen, war nicht sehr groß und hatte eine niedrige, rußgeschwärzte Decke. Alles hier war dunkel, von der Zeit, vom Rauch, vom jahrhundertealten Schmutz. Der Boden bestand offenbar nur aus Erde, die jedoch festgestampft worden war, bis sie hart wie Stein war. Getrocknete Kräuter waren locker darüber verteilt. Den einzigen Anachronismus stellten die lustigen Gummimatten dar, rosafarbene Dinger mit Enten und Fischen, die vor unseren Kübeln auf dem Boden lagen. Und natürlich das monströse Aggregat aus China, das in sich einen kleinen Schwarzweiß-Fernseher, eine Tageslichtlampe, ein Radio und anderen technischen Schnickschnack vereinte. Die Lampe leuchtete, der Fernseher lief, brachte allerdings nur krisseliges Rauschen. Das Radio knisterte, spuckte aber gelegentlich ganze, unzusammenhängende Silben aus: Tsin ... bai ... tsem ... is ... ka ... es...
Chinesisch, natürlich.
Dawa und Mimar tauchten auf, die beiden »aufgewecktesten Mönche«. Jeder brachte einen Eimer mit heißem Wasser, das sie langsam in die Kübel gossen. Anschließend langte Mimar - oder vielleicht auch Dawa? - nach einem grauen Beutel, knotete ihn auf und gab getrocknete Kräuter ins Wasser.
»Was ist das?«, wollte ich voller Misstrauen von Kotja wissen.
»Eine alte tibetanische Medizin. Glotz nicht so misstrauisch, ich weiß es wirklich nicht! Irgendwelche Kräuter. Wegen des Dufts. Oder für die Gesundheit.«
»Wie soll ich dich denn sonst bitte schön angucken?« Ich zuckte die Achseln. Die beiden Mönche waren schon wieder hinausgegangen, immer noch entrückt und wortkarg. »Seit ich dich kenne, hast du mich ständig belogen! Erst hast du dich für einen ganz normalen Menschen ausgegeben! Dann hast du versucht, mich umzubringen! Kannst du mir das vielleicht irgendwie erklären?«
»Ja«, antwortete Kotja in ungewöhnlich ernstem Ton. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Frag, was du willst, ich werde dir antworten.«
Das ist leicht gesagt: Frag, was du willst. In mir hatten sich derart viele Fragen angestaut, dass ich zunächst fast verzweifelte. Kotja wartete geduldig in seinem Kübel.
»Wie alt bist du?«, fing ich an.
»Wieso reitest du jetzt wieder darauf herum?«, wunderte sich Kotja. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich älter bin, als ich aussehe.«
»Das habe ich nicht vergessen. Aber konkret? Wie viel?«
Pfeifend sog Kotja die Luft ein. Er beugte den Kopf zurück und bettete ihn auf den Kübelrand. »Neunundvierzig«, antwortete er düster.
Aus irgendeinem Grund nahm ich ihm das sofort ab.
»Zwei Weltkriege und eine Handvoll Revolutionen«, erinnerte ich ihn gemeinerweise. »Kurator ... dabei bist du nur ein Vierteljahrhundert älter als ich! Warum hast du mich angelogen?«
»Ein Kurator muss alt sein«, behauptete Kotja. »Alt, weise und erfahren. Ich bin vor dreiundzwanzig Jahren Kurator geworden ... Hätte man mir da etwa Respekt entgegengebracht?«
»Wie bist du Kurator geworden?«, wollte ich wissen, obwohl ich die Antwort bereits ahnte.
Kotja seufzte. Er nahm seine Brille ab, tauchte sie absurderweise in das heiße Wasser und hing sie über den Rand des Kübels.
»Also?«, insistierte ich.
»Ich ... man hatte mich ausgelöscht. Das war eine Hebamme von Arkan, ein Mann, der jetzt in einer anderen Welt arbeitet, nicht mehr bei uns ...« Kotja stockte. »Ich wurde zum Funktional ... und zwar ... das ist jetzt kein Witz ... zu einem Musikerfunktional.«
»Was?«
»Ein Musiker.«
»Geiger?«, mutmaßte ich ironisch.
»Saxophonist.«
Das verschlug mir die Sprache, und ich schwieg.
»Du hättest mich mal spielen hören sollen!«, sagte Kotja träumerisch. »Ich hatte ein sehr seltenes Instrument, ein Basssaxophon ...«
»Eine Arbeit von Stradivari?«
»Wenn du dich über mich lustig machst, kriegst du aus mir kein Wort mehr raus.«
»Entschuldige.« Einlenkend hob ich die Hände. »Es ist mit mir durchgegangen. Ich wusste nicht mal, dass es verschiedene Saxophone gibt.«
»Sieben Arten. Am verbreitetsten ist das Tenorsaxophon und das Alt ... Ein Bass ist eine wahre Seltenheit. Das war mein Instrument.«
»Was macht man damit für Musik?«, fragte ich, noch immer wie vor den Kopf gestoßen.
»Fürs Saxophon gibt es unterschiedliche Musikrichtungen«, wich Kotja einer klaren Antwort aus. »Ich habe meist improvisiert. Ich habe ...« Er verstummte, beendete den Satz dann aber doch: »... in Restaurants gespielt.«
»Jazz ist Musik für Fettwänste«, grummelte ich.
»Ja, ja!« Kotja schnaubte bloß. »Ist dir etwa noch nicht klar geworden, dass wir alle nur Angestellte sind? Der Besitzer eines Hotels genauso wie der Inhaber einer Restaurants oder der Zöllner an einer Übergangsstelle zwischen den Welten? Ich ... habe damals Journalismus studiert, davon geträumt, bei der Komsomolskaja Prawda zu arbeiten - und wurde dann von heute auf morgen ein Niemand. Zwei Tage lang bin ich durch die Straßen geirrt, wobei ich von Glück sagen kann, dass damals Sommer war. Dann haben sie Kontakt aufgenommen ... Damals gab es ja noch keine Handys. Damals existierte die Sowjetunion noch. Breschnew war vor kurzem gestorben, Andropow an der Macht ... Weißt du überhaupt, wer Andropow ist? Aber woher solltest du das wissen ... Er war Leiter des KGB und hat als Erstes Säuberungen im Land vorgenommen. Wer korrupt war, wanderte ins Gefängnis, diejenigen, die während ihrer Arbeitszeit ihre Privatangelegenheiten regelten, wurden entlassen ... Es wurden Razzien in Geschäften und Kinos durchgeführt und die Leute überprüft, ob sie gerade Urlaub hatten oder zu dieser Zeit eigentlich hätten ihrer Arbeit nachgehen müssen ...«