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Sascha zwinkerte mir zu. »Bestens«, antwortete er. »Aber er hat ja auch ausschließlich Heilwasser getrunken, Diät gehalten ...«

»In Karlsbad?«, gab ich einen weiteren Schuss ins Blaue ab.

Und traf erneut ins Schwarze.

»Wie immer.« Damit akzeptierte Sascha mich endgültig als einen von »unseren Leuten«. Meine Fähigkeit zu reisen stimmte ihn nicht länger misstrauisch, ebenso wenig die Tatsache, dass er mich nicht kannte. Als er sich ein weiteres Bier aufmachte, fragte Sascha mich: »Kennen Sie den Witz von dem Gynäkologenfunktional?«

»Welchen denn?«, fragte ich zurück.

»Den, wo das Gynäkologenfunktional ins Sprechzimmer seines Kollegen stürmt und sagt: ›Komm mal rüber zu mir! Meine Patientin, die musst du dir angucken!‹«

Das Manko all der Witze über eine bestimmte Gruppe besteht ja darin, dass sie lediglich Abwandlungen von bestimmten Grundwitzen darstellen. Selbst wenn du kein verrückter Fan der Harry-Potter-Bücher bist, von Rollenspielen oder, da sei Gott vor, von Rapmusik, verstehst du alle einschlägigen Witze. Du brauchst nämlich bloß den Bürgerkriegshelden Tschapajew gegen Potter einzutauschen oder seinen Gefährten Petka gegen Ron. Statt »Karo Trumpf« heißt es eben »Spezialfähigkeiten«. Oder du tauschst Alla Pugatschowa gegen Timati oder Dezl aus. Es funktioniert, denn im Prinzip sind alle Witze gleich aufgebaut.

Aus Höflichkeit lächelte ich trotzdem. Obendrein gab ich meinerseits einen gemäßigt schweinischen Witz zum Besten, in dem ein allzu liebestoller Georgier vor Gericht stand.

Sascha wieherte vor Lachen und fuhrwerkte begeistert mit der Bierflasche herum. Seine Reisegesellschaft stellte ihn fraglos hochzufrieden.

Mich, wenn ich ehrlich sein sollte, auch.

Wir tranken Bier, gingen ein paar Mal zum Rauchen auf den Gang, wobei ich Sascha zu den Treasures einlud, die ich in Kotjas Wagen requiriert hatte, was mir abermals einen anerkennenden Blick einbrachte. Irgendwann ging das Bier aus, und Sascha besorgte im Speisewagen neues. Natürlich gab es da kein englisches Ale, aber nach der dritten Flasche verliert sich der Unterschied zwischen den Sorten sowieso und jedes Bier schmeckt gleich.

Kurz nach eins legten wir uns schlafen, beide in bester Stimmung. Alexander schnarchte sofort los, was mich jedoch bei dem Rattern der Räder nicht sonderlich störte. Die Ventilation im Waggon lief tadellos, ein seltener Glücksfall in einem ukrainischen Zug. Ich schob eine Hand unter den Kopf, lag ausgestreckt auf dem Rücken und starrte auf die über die Decke flitzenden Lichtreflexe von Laternen. Wir mussten uns irgendeiner Kleinstadt nähern.

Schon merkwürdig: Von allen Passagieren hatte ich ausgerechnet denjenigen abgekriegt, der über Funktionale Bescheid wusste. Der mich sogar dazu gebracht hatte, über sie zu reden. War das ein Zufall? Oder eine Falle? Schließlich war ich aus den Reihen der Funktionale ausgeschert, hatte ihre Gesetze verletzt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich hatte den Aufstand geprobt. Ich hatte den Polizisten Andrej überwältigt, die Hebamme Natalja umgebracht und war anschließend meinem Kurator entkommen, meinem ehemaligen Freund Kotja.

Wenn man vom gesunden Menschenverstand ausging, schien ein Zufall kaum wahrscheinlich, was hieß, Sascha musste auf mich angesetzt worden sein. Wenn man allerdings schon mit dem gesunden Menschenverstand argumentierte, dann musste ich sowieso seit langem im Krankenhaus liegen und mir etwas im Fieberwahn zusammenspinnen, denn wer würde an andere Welten glauben, in die geheime Türen führten, an Funktionale, die durch die Stadt flanierten, und an geheimnisvolle Experimentatoren, die das alles lenkten?

Ich hob eine Hand und starrte müde auf den Stahlring an meinem Finger. Er war alles, was mir von meiner Funktion geblieben war.

Zeit, zu schlafen. Mein Reisegefährte, mochte er nun eine Zufallsbekanntschaft oder auf mich angesetzt sein, würde wohl kaum mitten in der Nacht über mich herfallen. Ich spürte keine Gefahr, und auf meine Instinkte verließ ich mich nach wie vor. Morgen früh würde ich Charkow erreichen und Wassilissa suchen, jene seltsame Frau, der ich trotz allem über den Weg traute.

Der Zug wurde immer langsamer. In der Ferne vernahm ich bereits das rasselnde, metallene Scheppern der Bahnhofslautsprecher: »Auf Gleis zwei ... hat Einfahrt der Schnellzug Nr. 19 ... Moskau - Charkow ...« Über die Wand glitt ein greller, rechteckiger Lichtfleck, der meine unter einem Gummizug steckende Hosen und die zusammen mit dem ausgeleierten Pullover auf das Ablagegitter geworfenen Socken erfasste. (Ja, ich geb’s zu, ich bin ein Schwein!)

Ich stemmte mich auf einen Ellbogen hoch und griff nach der locker vorgezogene Gardine. Automatisch wanderte mein Blick über den näher kommenden Bahnsteig.

Ganz am Anfang, da, wo der letzte Waggon halten würde, stand eine Gruppe junger Männer, vielleicht zehn oder zwölf Typen. Sie alle hatten kurz geschnittene Haare, trugen keine Mütze, dafür aber Trenchcoats oder hyperkurze Lederjacken. Aufmerksam musterten sie die Waggons.

Ihre Gesichter kamen mir vage bekannt vor, nicht aufgrund einzelner Merkmale, eher der Typus als solcher. Im Grunde schienen es die reinsten Durchschnittsgesichter zu sein - aber etwas Ungewöhnliches machte ich eben doch aus.

Dann war der Bahnsteig erst mal eine ganze Weile leer. Es gab halt nicht viele Menschen, die mitten in der Nacht jemanden in einer kleinen Provinzstadt vom Zug abholen wollten.

Aber dann: Dreißig Meter weiter stand ein junger Kerl, der so aussah, als hätte er sich rein zufällig von der ersten Gruppe gelöst. Nach zwanzig oder dreißig Metern langweilten sich erneut ein paar junge und durchtrainierte Gestalten. Schließlich kam noch ein Mann. In einiger Entfernung machte ich über der Bahnhofshalle das matt schimmernde Schild »Orjol« aus.

Während ich anfing, mich anzuziehen, ließ ich den Bahnhof keine Sekunde aus den Augen. In Jeans, Socken und Schuhe geschlüpft, den Pullover übergezogen. Ein Blick auf meine Tasche - nein, die würde ich nicht mitnehmen. Die enthielt eh nur ein paar Klamotten. Aber die Jacke. Ich klopfte gegen die Tasche und spürte das dicke Portemonnaie. Fertig, es wurde höchste Zeit ...

»Musst du pinkeln oder willst du eine rauchen?«, fragte Sascha von seinem Bett aus, indem er sein Schnarchen kurz unterbrach.

»Rauchen«, murmelte ich. »Schlaf weiter!«

Daraufhin huschte ich in den Gang hinaus. Der Zug hatte noch nicht angehalten, sondern zuckelte bloß langsam am Bahnsteig lang. Gleich würden diese aufmerksamen jungen Männer in den ersten und den letzten Wagen springen und sich zu zweit oder zu dritt vor jeder Waggontür aufbauen.

Ob ich mit ihnen zu meiner Zeit als Funktional hätte fertig werden können, wüsste ich nicht zu sagen. Jetzt würde ich das mit Sicherheit nicht schaffen. Dafür brauchte ich nicht mal eine Wahrsagerin zu konsultieren.

Ich lief den schmalen Gang hinunter und rüttelte an den kalten Aluminiumgriffen der Fenster. Zu! Zu! Zu! Das vierte Fenster gab endlich nach und bewegte sich nach unten. Die feuchten Schienen krochen unter mir dahin, auf einem Nebengleis stand ein Güterzug, feiner Schneeregen funkelte im schwankenden Lichtkegel einer der auf einem Pfeiler sitzenden Blechlampen auf ...

Irgendwann erhaschte ich den Blick eines dieser kurzrasierten Typen, der einsam am Nachbargleis stand. So langsam, als schlafe er halb, verzog er die Lippen zu einem Grinsen und winkte mir zu. Anschließend kramte er ohne zu zögern sein Funkgerät aus der Gürteltasche.

Diejenigen, die den Zug eingekesselt hatten, machten keine Fehler. Die Kette stand auf beiden Seiten.

Ich saß in der Falle.

»Wo willst du denn hin, Kirill?« Sascha tauchte gähnend aus dem Abteil auf. Er fixierte mich. Dann lugte er zum Fenster raus. Mit zusammengekniffenen Augen behielt er jemanden im Blick. Wie ein wildes Tier witterte er die Gefahr. Wobei es im tiefsten Dschungel längst nicht so gefährlich sein dürfte wie in den hellen, klimatisierten Gängen von Regierung und Wirtschaftswelt. »Sind die hinter dir her?«