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Ich nickte. »Gehörst du zu ihnen?«, fragte ich.

»Weshalb solle ich mich auf ein derart schmutziges Spiel einlassen?«, japste Sascha empört. Und als könnte ich nach wie vor gleich einem Funktional eine Lüge erkennen, wusste ich: Er sagte die reine Wahrheit. Er hatte es in seinen Kreisen von Politik und Wirtschaft und als Bürokrat in einer staatlichen Institutionen genau deshalb so weit gebracht, weil er sich niemals mit irgendjemandem anlegte. An keiner einzigen Auseinandersetzung hatte er teilgenommen, sondern sich allen gegenüber freundlich gezeigt und strikt Neutralität gewahrt. Solche Leute kommen in der Regel nie bis ganz an die Spitze - fallen aber auch nie auf die Schnauze.

»Ich muss weg«, sagte ich. »Die haben’s auf mich abgesehen.«

Zitternd brachte der Zug die letzten Meter hinter sich.

»Dann geh«, erwiderte Sascha erleichtert. »Viel Glück! Ich hätte dir gern geholfen, aber ...«

»Schön, wenn du das gern tun würdest«, hakte ich sofort ein. »Du wirst mir helfen.«

Ich verschwand wieder in unserem Abteil, schnappte mir meine Tasche und rannte zurück zu dem offenen Fenster. Genau in dem Moment kroch der Zug in den Schatten der kleinen Gitterbrücke, die sich über das Gleis spannte. Ich schleuderte die Tasche zum Fenster raus.

Sascha dachte anscheinend, ich würde meinen Sachen hinterherhechten. Er kam sogar auf mich zu, um mir eiligst behilflich zu sein. Ich zog jedoch die Notbremse, was den ohnehin schon langsamer werdenden Zug dazu brachte, mit zischenden Druckluftbremsen abrupt anzuhalten. Vermutlich würden sämtliche Reisenden, die ich damit aus dem Schlaf gerissen hatte, den absolut unschuldigen Lokführer verfluchen.

»Ich bin aus dem Fenster gesprungen«, erklärte ich.

»Das hast du doch gesehen?«

Einen ausgedehnten Moment lang schwieg Sascha, drückte sich gegen die Wand und kratzte sich den bei seinem Beruf allzu flachen Bauch. Wer mir auf den Fersen war, wusste er nicht, was ihn ganz wesentlich daran hinderte, zu einer Entscheidung zu gelangen. Ich schien irgendwie einer von ihnen zu sein - aber auch von den eigenen Leuten muss man sich rechtzeitig distanzieren!

Es war nicht schwer dahinterzukommen, welche Gedanken ihm durch den Kopf schossen. Was sprach dafür, mir zu helfen, was dafür, mich ans Messer zu liefern? Die Argumente hielten sich in etwa die Waage ...

Sascha drehte sich von mir weg und steckte den Kopf zum offenen Fenster hinaus. »Bleib stehen, du Schwein!«, schrie er in die Nacht. »Halt!«

Jetzt durfte ich auf keinen Fall länger zögern.

Ich raste zurück in unser Abteil und linste durch den schmalen Spalt zwischen den Gardinen auf den Bahnsteig. Anscheinend beobachtete mich niemand. Daraufhin stieg ich aufs Bett.

Der Schlafwagen Erster Klasse in seiner modernen ukrainischen Variante unterscheidet sich kaum von einem einfachen. Nur die oberen Betten sind abmontiert und ein paar Schönheitsreparaturen vorgenommen worden. Das Gepäckfach über der Tür hatte man jedoch nicht angetastet.

Dahin kletterte ich nun, wobei ich mich mit der Gewandtheit eines Menschen hochzog, dessen Fersen bereits der gierige Atem eines Raubtiers umwehte.

Meine Chancen standen eher bescheiden. Nur jemand, dem keine andere Wahl bleibt, versteckt sich. Die Rettung eines Flüchtlings liegt einzig und allein in der Flucht. Sich zu verstecken - das ist pure Kinderei.

Aber selbst auf der Flucht konnte man noch taktieren ...

»Dich erwisch ich!«, schrie Sascha höchst überzeugend im Gang. »Du dreckiger Dieb!«

Endlich klapperte eine Tür des Waggons und schwere Schritte trampelten durch den Gang. Etwas Gleichförmiges, Einheitliches lag in diesem Getrampel, genau wie bei marschierenden Soldaten oder bei den Schulkindern, die sich in Pink Floyds The Wall übers Fließband schleppen. Eine Uniform verbindet halt - selbst wenn von ihr nur die Schuhe geblieben sind!

Mir fiel eine Geschichte ein, die mir mal jemand erzählt hatte: Während der Olympiade in Moskau waren Milizionäre massenhaft in Zivilkleidung gesteckt und auf Streife geschickt worden. Dafür hatte man im befreundeten Ostdeutschland, das damals DDR hieß, eine entsprechende Menge anständiger Anzüge, Hemden und Krawatten gekauft. Die alle gleich aussahen. Vermutlich, damit sich niemand zurückgesetzt fühlte. Oder sollte den Beschaffungsintendanten tatsächlich nicht klar gewesen sein, dass Zivilkleidung individuelle Nuancen aufweist? Jedenfalls patrouillierten durch die Moskauer Straßen Pärchen von jungen Männern, die allesamt kurz geschnittene Haare und absolut identische Anzüge trugen. Da man außerdem versucht hatte, sämtliche Kinder in Ferienlagern außerhalb der Stadt unterzubringen - damit sie die Ausländer ja nicht um Souvenirs anbettelten -, nahmen die Besucher einen ausgesprochen befremdlichen Eindruck mit nach Hause: Moskau ist eine von verkleideten Spionen wimmelnde Stadt, düster und für ein normales Leben ungeeignet.

»Was ist passiert, Bürger?«, klang es aus dem Gang zu mir herüber.

Ein eiskalter Klumpen ballte sich in meiner Brust zusammen.

Der Typ hatte Russisch gesprochen. Absolut korrektes und ordentliches Russisch. Lediglich eine kaum wahrnehmbare Nuance, ein ganz zarter Akzent enttarnte ihn als Nicht-Russen.

Mich jagten nicht unsere eigenen Funktionale und auch nicht unser Geheimdienst. Den Zug durchkämmten die Dreckschweine aus Arkan.

Ich konnte nur hoffen, dass Sascha das nicht mitkriegte.

»Mein Abteilnachbar! Dieser Mistkerl!«, jammerte Sascha mit leicht übertriebener Dramatik. »Da sitzen wir friedlich beieinander und dann ...«

Die Geräusche signalisierten mir, dass Sascha seinen Gesprächspartner förmlich in unser Abteil boxte, um ihm zu demonstrieren, dass dieses leer war. Daraufhin zog er ihn genauso rasant wieder heraus, hin zum Fenster.

»Der Hund! Wir haben noch Bier zusammen getrunken, wie zwei anständige Menschen! Und dann springt er wie von der Tarantel gestochen aus dem Fenster! Der hat doch garantiert mein Portemonnaie geklaut!« Wieder rasselte etwas, und Sascha tauchte im Abteil auf, um nach seinem Jackett zu langen. »Ach nee!«, rief er erstaunt aus. »Mein Portemonnaie ist noch da! Wohin wollen Sie denn? Ich habe mich ja geirrt, der ist gar kein Dieb!«

»Ihr Reisegefährte ist ein extrem gefährlicher Terrorist und Mörder«, antwortete ihm jemand, der schon ziemlich weit weg war. »Sie können von Glück sagen, dass Sie noch am Leben sind, Bürger.«

Ich lag ruhig wie eine Maus da und konnte immer noch nicht glauben, dass das Abteil nicht durchsucht worden war. Im Gepäckfach roch es nach Staub, Desinfektionsmittel und aus irgendeinem Grund nach Hanf. Wundern tat mich das allerdings nicht - es war ja eine Verbindung nach Süden.

Mich hatte gerettet, dass meine Häscher von Arkan, von Erde-1, stammten. Also aus einer Welt, in der alles korrekter zuging als bei uns. Wo die Bürger mehrheitlich loyal waren und ihren Polizisten die reine Wahrheit auftischten.

»He ... du Mörder und Terrorist ...«, rief Sascha mit leicht zweifelnder Stimme. »Sie sind weg.«

Ich schaute nach unten und sprang hinunter.

Im Waggon war es still. Die Fahrgäste schienen zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Wer aufgewacht war, blieb in seinem Abteil hocken und steckte die Nase nicht in den Gang heraus.

Sascha sah mich mit einem zweifelnden Blick an, in dem ich die Frage las: Habe ich die richtige Entscheidung getroffen?

»Tschüs«, sagte ich, während ich in geduckter Haltung zur Waggontür rannte.

Die Tür vom Personaltabteil stand offen. Die beiden Zugbegleiterinnen tuschelten auf dem Bahnsteig miteinander, den Blick fest auf etwas gerichtet. Ich linste von der Treppe aus über ihre Schultern. Sie studierten ein Plakat mit meinem Bild. Den Text unter dem Foto las ich erst gar nicht. Ich pirschte mich an die beiden Frauen an. »Ist euch euer Leben lieb?«, flüsterte ich.