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Die ältere der beiden nickte und presste beide Hände vors Gesicht. Die jüngere wollte den Mund öffnen und loskreischen.

Ich presste ihr die Hand auf den Mund. »Willst du, dass deine Kinder friedlich im Hof spielen können?«, fragte ich.

Die Zugbegleiterin riss panisch die Augen auf und erstarrte.

»Dann habt ihr beide niemanden gesehen und niemanden gehört.« Mit diesen Worten zog ich meine Hand weg.

Keine der beiden Frauen brachte einen Ton heraus. Ich spähte nach links und nach rechts. Niemand zu sehen. Entweder durchkämmten die jungen Herren den Zug oder suchten mich zwischen den Abstellgleisen und Güterzügen.

So schnell ich konnte, sprintete ich rüber zu der halbdunklen Bahnhofshalle.

Zwei

Es gibt unter den Menschen eine ganz erstaunliche Spezies: verwurzelte Moskauer. Man darf sie nicht mit gebürtigen Moskauern verwechseln, die sich, vom leichten Snobismus der Hauptstädter abgesehen, durch nichts von anderen Russen unterscheiden. Ein verwurzelter Moskauer ist dagegen ein Wesen, das Moskau noch nie verlassen hat und auch gar nicht daran denkt. Innerhalb der Spezies treten verschiedene Varianten auf. In der hartnäckigsten Form kommt ein Mensch in der Grauermann-Frauenklinik zur Welt, wird auf dem Wagankow-Friedhof begraben und verbringt sein (mitunter sehr langes) Leben irgendwo zwischen diesen beiden Punkten.

Von einem solchen hartnäckigen Fall hatte mir mein Vater einmal berichtet. Eine Kollegin von ihm verließ mit Anfang fünfzig zum ersten Mal Moskau, um an einer wissenschaftlichen Konferenz in Petersburg teilzunehmen. Vor der Reise war sie extrem nervös gewesen, aber erst im Zug erfuhren die anderen, dass die Frau nie zuvor aus Moskau rausgekommen war. Als Kind nicht ins Pionierlager, im Sommer nicht auf die Datscha! Das hatte keinen besonderen Grund, sie war einfach nirgendwo hingefahren, mehr nicht. Während der Fahrt schlief sie keine Sekunde, sondern starrte die ganze Zeit in die triste Landschaft entlang der Strecke. In Piter zeigte sie sich entzückt von Newa und Newski-Prospekt, begeisterte sich für die Isaak-Kathedrale und die Admiralität, für prachtvolle Hauseingänge und Ziermauerwerk. Unversehens eröffnete sich dieser Frau eine ganz neue Welt!

Obwohl auch ich in Moskau aufgewachsen bin, stellte sich die Frage, ob es jenseits der Moskauer Ringautobahn Leben gebe, für mich nicht, denn ich war bereits fünf Mal in Piter gewesen, ferner in Rjasan und Jekaterinburg, ja sogar in Krasnojarsk. Außerdem natürlich in der Türkei und in Spanien, den heutigen Alternativen zur Krim.

Dennoch war die Stadt Orjol für mich absolute Terra incognita. Nun ja, es war die »Stadt des ersten Salutschusses«, genau wie das benachbarte Belgorod. In der Vergangenheit hatte es da irgendeine Festung gegeben. Oder war es eine Schlacht?

Damit erschöpfte sich mein Wissen allerdings auch schon.

Mir war nicht mal klar, wie die Einwohner hießen. Orjoler oder Orjolier? Orlower? Orjolten? Orjoler, Orjolerinnen und Orjolchen?

Die Antwort auf diese Frage bekam ich von einem Taxifahrer, der vorm Bahnhof gewartet hatte und dem ich erklärte, ich hätte meinen Zug verpasst und müsse so schnell wie möglich nach Charkow.

»Mir soll’s recht sein«, erklärte der Taxifahrer unerschütterlich, der den Kopf zum Fenster seines alten Wolgas herausstreckte. »Wenn du zahlst, bring ich dich überall hin. Sogar nach Moskau.«

Nach Moskau?

Mit einem Mal wollte ich schrecklich gern zurück. Nach Hause, nach Moskau. Zurück in die lärmende Metropole, wo du problemloser untertauchen kannst als in jeder Wüste. Würden die da nach mir fahnden? Vielleicht hatten sie mich überhaupt nur verfolgt, weil ich - statt Ruhe zu geben und mein altes Leben wieder aufzunehmen - nach irgendwas suchte? Warum auch immer, der Gedanke leuchtete mir sofort ein. Ich bräuchte jetzt also nur nach Hause zu fahren, zurück nach Moskau - und der ganze Albtraum würde sich in Luft auflösen. Ich würde wieder bei Bit und Byte arbeiten, selbst wenn ich einen Rüffel wegen der blaugemachten Tage kriegte, mich mit Anka aussöhnen ...

Ich würde Nastja vergessen.

»Nein«, sagte ich. »Ich muss nach Charkow.«

»Wie viel?«

Obwohl ich wusste, was er meinte, hörte ich mich zu meiner Überraschung antworten: »Wie fahren wir denn? Über Kursk oder über Snamenka?«

Was für ein Snamenka nun schon wieder? Mir war nicht mal klar, dass die Strecke über Kursk führte!

Der Fahrer musterte mich noch einmal. Diesmal wesentlich aufmerksamer. Anscheinend passte das, was er sah, nicht zu dem, was ich sagte. Als ob im Fernsehen im Sender »Unser Kino« irgendein Mädchenfilm läuft, der mit der Tonspur von irgendeinem Mädchenreport vom Pornokanal unterlegt ist.

»Warum willst du denn über Snamenka?«, wollte der Fahrer wissen.

»Das ist kürzer«, vermutete ich.

Nein, ich vermutete es nicht. Ich wusste es!

»Stimmt, dauert aber trotzdem länger. In Kromy bleiben wir stecken ... Bist du Orlowtschane?«

»Sozusagen.« Ich lächelte ihn an. »Also, wie viel willst du?«

Der Fahrer seufzte. Dann spuckte er durch das offene Fenster. »Also ...«, setzte er zögernd an. »Zurück bekomme ich niemanden ... Sagen wir sieben?«

Nach alter Moskauer Gewohnheit nahm ich sofort an, es ginge um siebenhundert Dollar.

»Nun übertreib’s mal nicht, Chef, so kommen wir nicht ins Geschäft!«

»Dann halt sechstausend Rubel, weil du von hier bist.« Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Drunter mach ich’s aber nicht!«

»Geht klar!« Ich guckte noch einmal zum Bahnhof rüber, stapfte ums Auto rum und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Endlich war bei mir der Groschen gefallen: In der Provinz werden große Summen nicht à Hundert Dollar, sondern à Tausend Rubel angegeben.

»Erst das Geld«, verlangte der Fahrer, der keine Anstalten machte, den Motor anzulassen. »Ich fahr noch zu Hause vorbei und geb’s meiner Frau.«

»Ein kluger Gedanke«, lobte ich ihn und holte das Portemonnaie heraus, das früher einmal Kotja gehört hatte. Ich zählte sechs Tausender ab. Der Fahrer faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in seine Tasche. Anschließend drehte er den Zündschlüssel. »Warum nimmst du nicht den Zug?«, fragte er.

»Den hab ich doch verpasst.«

»Klar.« Der Fahrer grinste. »Verpasst ... Der Schwanz verschwindet gerade hinter den Bäumen ... Ich könnte dich nach Kursk bringen, bevor der Zug da ist. Willst du das? Da haust du dich in deinem Abteil aufs Ohr ...«

»Nach Charkow«, wiederholte ich stur.

»Mir soll’s egal sein, ich bring dich überhall hin.« Der Fahrer zuckte mit den Achseln. »Du solltest aber eins wissen: Wenn deine Papiere nicht in Ordnung sind oder sie an der Grenze bei dir Waffen oder Drogen finden ... dann ist das dein Problem.«

»Ich trage keine Waffen«, versicherte ich. »Und auf Drogen habe ich mich noch nie eingelassen. Wieso nimmst du mich überhaupt mit, wenn du mir so was unterstellst?«

»Ich mach’s halt«, erklärte der Fahrer. »Von irgendwas muss ich ja leben ... Und lass dein Fenster runter, der ganze Wagen stinkt schon nach Bier ... Wenn uns die Polizei anhält, darf ich denen noch beweisen, dass ich keinen Tropfen angerührt hab.«

An die Fahrt nach Kursk erinnere ich mich nicht mehr, denn ich schlief die ganze Zeit über. Kaum hatte der Fahrer bei sich zu Hause vorbeigeschaut und seiner verschlafenen Frau das Geld ausgehändigt, war ich weg gewesen. Ich träumte allerlei Unsinn, an den ich mich zwar nicht mehr erinnerte, der sich beim Wachwerden jedoch mit einem bedrückenden, ekelhaften Gefühl bemerkbar machte.

Als ich aufwachte, ließen wir Kursk gerade hinter uns. Der Fahrer fuhr auf eine Tankstelle, parkte, ging in den Laden und kaufte ein paar Dosen kalten Kaffee. Der kurze Halt weckte mich zuverlässiger als das ganze Gerumpel während der Strecke Orjol - Kursk. Ich drehte mich um und betrachtete blinzelnd den Fahrer, der gerade zurückkam. Benzin blubberte, als der Wagen aufgetankt wurde. Und es blubberte die in Blech gepackte koffeeinhaltige Flüssigkeit - meine Zunge weigerte sich, dem Getränk die Bezeichnung Kaffee zuzugestehen -, die die Speiseröhre des Fahrers hinunterplätscherte und seinen Magen füllte. Der Geschmack ließ mich von diesem Gebräu ausschließlich in kargen medizinischen Begriffen denken.