Himmel hilf, was tat ich da? Ich war verrückt, hundertprozentig verrückt, ein durchgeknallter Kamikaze, ein Selbstmörder, Masochist und Idiot, reif für den Darwin Award...
Ich holte tief Luft und robbte noch ein paar Zentimeter über den Felsen. Dann noch ein paar. Und noch ein paar.
Das war’s. Jetzt hing mein Gewicht an einem Faden. Gut, ein klein wenig lastete auch noch auf dem Felsen, gegen den ich mich stemmte. Die Wasserspritzer bildeten Wolken in der Luft.
Ich musste runter ...
Ich kippte das Gewehr, wobei ich aufpasste, dass der Faden meine Finger nicht berührte. Gleichmäßig glitt ich nach unten.
Die ersten zehn Meter ließen sich dermaßen gut an, dass sogar ein Teil der Anspannung von mir wich. Meine improvisierte Umlenkrolle - keine Ahnung, wie echte Alpinisten das Ding nennen! - glitt tadellos und langsam den Faden hinunter. Wie eine Spinne, die sich in ihrem Netz bewegt, seilte ich mich neben der Wasserwand ab, diesem Kaleidoskop aus Tropfen.
Irgendwann gewann ich Fahrt. Nein, es war alles noch wie bisher, nur lief der Faden mit einem Mal nicht mehr so stramm durch meine Konstruktion. Ich stellte die MPi senkrecht, in der Hoffnung, ich würde anhalten. Nein. Der Fall verlangsamte sich, nahm wieder ein akzeptables Tempo an, aber die Bewegung kam nicht zum Stillstand.
Das Wasser! Daran hatte ich nicht gedacht! Der Faden war feucht geworden, und der Reibungswiderstand, bei einem so dünnen Faden ohnehin nicht sehr hoch, fiel ganz weg. Mich rettete nur, dass sich der Faden noch am Lauf der MPi rieb.
Ich versuchte, mit den Füßen am Fels das Herabgleiten abzubremsen, aber das führte nur zu heftigen Rucken, die mich um die Stabilität des Fadens fürchten ließen. Die statische Belastung hatte er ausgehalten. Aber ob er auch die Stöße verkraftete?
Ich konnte nur noch darauf hoffen, dass der Abstieg, der immer mehr einem Sturz gleichkam, sich nicht auf ein mörderisches Tempo hochschraubte.
Die letzten Meter legte ich absolut rasant zurück, meine Arme wurden immer schwerer, meine Finger ließen sich kaum noch bewegen. Vom gegen den Felsen brandenden Meer trennte mich nicht mehr viel. Zehn Meter vielleicht. Gut, fünfzehn.
In dem Moment erblickte ich die unter mir baumelnde Rolle. Hatte der Faden also doch nicht gereicht.
Das Gewehr hielt ich fest gepackt. Mit vollem Schwung sauste ich runter, bis der Ring des Visiers auf die Rolle prallte. Der Faden sirrte kurz, riss, und ich stürzte strudelnd in die Tiefe, stieß mich im allerletzten Moment von der Felswand ab.
Der Himmel, die Felsen, der Wasserfall - alles wirbelte in einem teuflischen Karussell um mich herum. Ich glaube, ich vollführte drei komplette Salti, bevor ich rein zufällig in allerschönster strammer Haltung im Wasser landete. Wäre eine Sportjury in der Nähe gewesen, hätte ich bestimmt keine schlechten Noten bekommen. Wobei: Der verzweifelte Schrei, den ich während des ganzen Flugs ausstieß, das selbstständig durch die Luft fliegende Gewehr und der mir beim Aufprall aufs Wasser vom linken Fuß gerissene Schuh hätten mir garantiert ein paar Strafpunkte eingebracht.
Ich tauchte sehr tief unter. Der tosende Wasserfall drückte mich zusätzlich nach unten. Ich musste mich förmlich zwingen, die Augen zu öffnen, doch zum Glück war das Wasser nicht allzu salzig. Daraufhin schwamm ich, mich am Licht orientierend, nach oben. Meine Ohren schmerzten, und ich brauchte dringend Luft, denn beim Eintauchen hatte ich gerade ausgeatmet. Tapfer bezwang ich das Erstickungsgefühl, während ich mich nach oben arbeitete. Das durfte einfach nicht das Ende sein. Was hätte das denn sonst alles gebracht? Mein Aufstand, die Jagd, die Eiswüste auf Janus, der unglaubliche Abstieg ...
Ich ließ mich von diesem Gedanken förmlich hochtragen: Das darf nicht das Ende sein. Andererseits machte ich mir auch nichts vor. Milliarden von Menschen hatten diesen Gedanken schon gehabt - bevor ihr Ende eintrat.
Aber ich schaffte es.
Ich öffnete den Mund und stieß eine würdige Fortsetzung des Schreis aus, mit dem ich in die Tiefe gestürzt war. Ich hämmerte mit den Händen aufs Wasser und atmete gierig ein. Ich fluchte, was das Zeug hielt. Schließlich schwamm ich von dem donnernden Wasserfall weg.
Als mir klar wurde, dass mir nur ein Schuh geblieben war, zog ich auch den zweiten aus und warf ihn weg. Genau in dem Moment bemerkte ich den ersten, der auf dem Wasser trieb, doch da war es schon zu spät, das rechte Pendant war aus unerfindlichen Gründen wie ein Stein zu Boden gesunken.
Auf den ersten Blick kam es mir so vor, als wüchsen die senkrechten Felsen direkt aus dem Meer heraus. Dann erspähte ich jedoch einen schmalen Uferstreifen, den in der Vergangenheit vom Felsen abgebröckelte Steine geschaffen hatten. Ich schwamm darauf zu, kroch auf die Steine und erstarrte in der Pose einer gewissen dänischen Seejungfrau, zog die Beine unter den nicht vorhanden Fischschwanz und versuchte, zu Atem zu kommen.
Ich hatte es geschafft! Entgegen allen Erwartungen hatte ich es geschafft!
Vierzehn
Ein echter Held, einer von denen, die Ketten durchbeißen, kurzerhand Hubschrauber aus der Luft holen und spielend mit zehn, zwanzig Feinden fertigwerden, muss all seine Taten gelassen, kaltblütig und absolut emotionslos vollbringen. Also ungefähr so wie Schwarzenegger, der nicht umsonst mit diesen Rollen große Erfolge als Schauspieler gefeiert hat. Wenn im realen Leben ein Spezialeinheitler schreit, zetert und flucht und höchst anschaulich die Folgen seines Zorns ausmalt - wie die Figur eines anderen guten Schauspielers, Bruce Willis -, dann erleidet dieser Held nach ein paar Jahren voller Ruhmestaten einen dauerstressbedingten Herzinfarkt und wird den Rest seiner Tage durch Parks spazieren und Tauben mit Hirse füttern.
Vermutlich tauge ich nicht für die Rolle eines richtigen Helden.
Das wurde mir mit aller Deutlichkeit klar, als ich da am Meeresufer saß. Ich hatte Angst, sogar mehr Angst als beim Abstieg. Ein leichtes Zittern schüttelte mich, das nicht von der Kälte herrührte - das Wasser war warm gewesen -, sondern einzig und allein von dem Gedanken, wie mein Abenteuer hätte enden können, ja, hätte enden müssen.
Ein wenig tröstete mich, dass ein Mensch mit reicherer Fantasie sich schon längst vor Angst in die Hosen gepisst hätte.
Und ein Genreschriftsteller wie Melnikow hätte es sogar getan, noch bevor er sich abgeseilt hätte ...
Diese Phantastik-Schriftsteller haben’s gut! Ihren Helden steht immer das ganze Spektrum an Ausrüstung zur Verfügung, angefangen bei einer normalen Schnur bis hin zu einer Profi-Achteröse. Oder bis zum Einweg-Taschenantigrav. Oder zum Propeller, wie bei Karlsson, der bloß seine Hosen mit dem Motor anzuziehen brauchte und ganz gemütlich, den begeisterten Jungen noch zuwinkend, in die Luft aufstieg.
Hier lief jedoch pures Abenteuer als Improvisation ab, der verzweifelte Rettungsversuch eines Laien, der in eine Falle getappt war ... Und sollte ich diese Geschichte je rumerzählen, dann würde mich der Mathematiker für meine miserablen Berechnungen kritisieren, der Physiker für die Vernachlässigung des Reibungskoeffizienten und der Kletterer dafür, dass ich mich auf meine Hände verlassen und folglich keine Schlaufe aus meinem Gürtel und dem MPi-Gurt geknüpft hatte ...
Ach, ihr Schlaumeier! Zu gern hätte ich euch an meiner Stelle gesehen! Wenn du spürst, wie mit jeder Sekunde deine Entschlossenheit, diesen Abstieg zu wagen, dahinschwindet, wenn du begreifst: Noch fünf Minuten, und du wirst mutterseelenallein auf diesem Felsen hocken bleiben, genau wie Väterchen Fjodor aus den Zwölf Stühlen ...
Indem ich meine hypothetischen Kritiker gedanklich in ihre Schranken verwies, entspannte ich mich ein wenig. Ich zog mich aus und wrang die nasse Kleidung aus. Die Nacht würde kalt werden, auf eine Brise von der Landseite brauchte ich nicht zu hoffen, schließlich saß ich unter einem einhundertsiebzehn Meter hohen Kliff ...