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Die anderen Fotos erwiesen sich dagegen als aufschlussreicher.

Auf einem Bild war der Kapitän, zum Zeitpunkt der Aufnahme noch deutlich jünger, zusammen mit einigen europäisch wirkenden Männern zu sehen. Auch das musste nichts heißen, schließlich hatte ich nicht damit gerechnet, auf eine ausschließlich asiatische Menschheit zu treffen. Wäre da nicht der Hintergrund gewesen! Die Männer standen auf einem Hügel, hinter ihnen waren die Ruinen einer Stadt zu erkennen.

Einer sehr großen Stadt. Selbst halb zerstört wirkten die Wolkenkratzer noch wie die Giganten aus Manhattan oder aus einer hypermodernen Metropole im Orient. Die monströsen Skelette der Gebäude ragten wie die Knochen verwester Dinosaurier am ganzen Horizont auf. In den Gesichtern der Männer spiegelte sich das Bewusstsein um den feierlichen Moment wider: Sie wirkten stolz und verängstigt zugleich.

Das dritte Foto war überhaupt nur eine Landschaftsaufnahme. Nur dass diese Landschaft Hieronymus Bosch während der Arbeit an der Hölle für sein Triptychon gefallen hätte. Ein Himmel voll tiefhängender, dunkler Wolken, eine aufgewühlte, geschundene Erde voller Hügel und Schluchten. In der Nähe des Fotografen brannte der Boden, über die Steine tanzten Feuerzungen.

War das Erde-16, in die ich von der polnischen Zollstation aus einen Blick geworfen hatte?

Fuhr dieses Schiff zwischen den Welten hin und her?

Aber da waren ja noch zwei weitere Fotos.

Das eine zeigte eine schöne junge Frau. Eine Asiatin, aber anscheinend weder die Frau noch die Tochter des Kapitäns. Sie trug zeremonielle Kleidung. Und stand in einem prachtvollen Saal. Auch die Aufnahme selbst wirkte gestellt, offiziell, ein Hauch von Bürokratie ging von ihr aus, von Macht, von Empfängen und Befehlen. Obendrein prangte in einer Ecke eine seltsame Hieroglyphe ... Eine Widmung? Von einer der hiesigen Herrscherinnen?

Und das letzte Bild, auf dem ein Mann mittleren Alters dem Kapitän die Hand drückte, eine Aufnahme im Halbprofil, sodass die Gesichter nicht zu erkennen waren - im Gegensatz zur Wache, einigen Soldaten in altbekannter Uniform. Diese trugen langweilige, widerwärtige Gesichter zur Schau, in denen eine gemeine, angsteinflößende Brutalität lag, die nicht einer akuten Gefahr galt, sondern vom Protokoll so vorgesehen war. Im Hintergrund nicht sehr hohe Holzhäuser, orientalische Architektur, mit heruntergezogenen »Wellendächern« ...

Der Kapitän verkehrte anscheinend wirklich in höchsten Kreisen. Insofern hatte ich Glück gehabt. Oder auch nicht. Das würde sich herausstellen ...

Die übrigen Gegenstände in der Kajüte waren interessant, mehr aber auch nicht. Ein Säbel an der Wand, ein Allerweltsstück, europäisch, eher ein Sportgerät als eine Kriegswaffe, sogar mit einer Schnitzerei am Knauf des Griffs. Ein Stapel Bücher, den Titeln nach zu urteilen Liebesromane - um nicht zu sagen Pornoromane. Die Jaspisflöte und der lüsterne Schlund. Das Rotkehlchen und die Lyrasaite. Der arbeitsame Diener und die goldene Furche. Der treue Botschafter und das Tal des Geheimnisses. Die beiden letzten Titel ließen mich - warum auch immer - an die Märchen vom Zauberlehrling Harry Potter denken, und ich musste kichern.

Na, Kapitän, war wohl nicht ganz so einfach ohne Frau auf dem Meer, oder?

Zu gern hätte ich im Stehpult gekramt und eine Karte gesucht. Oder wenigstens ein Handbuch der Seefahrt. Aber natürlich ließ ich mich zu einer solchen Frechheit nicht hinreißen. Um der Versuchung nicht zu erliegen, verschränkte ich die Hände auf dem Rücken, machte mich daran, die Kajüte mit Schritten auszumessen und sah zum Bullauge hinaus auf das sich entfernende Ufer. Die Nacht war inzwischen vollends hereingebrochen, mein Rauchsignal hätte jetzt niemand mehr bemerkt ...

»Das Essen kommt gleich.«

Der Kapitän war sehr leise hereingekommen, als ich mit dem Rücken gerade zur Tür stand. Ob er mich irgendwie beobachtet und auf den richtigen Moment gelauert hatte?

»Vielen Dank. Ich habe zwar bereits etwas gegessen, bevor ich das Feuer gemacht habe, nehme aber gern an ihrem Mahl teil«, antwortete ich, ohne mich umzudrehen.

Aus unerfindlichen Gründen mied ich das »Chinesisch«, zu dem der Kapitän zurückgekehrt war. Stattdessen gab ich jener offiziellen Sprache den Vorzug, die weitaus diplomatischer und geschraubter klang. Warum?

Vermutlich, weil es so richtig war.

»Ich hatte schon lange nicht mehr die Gelegenheit, in der Obersprache zu reden«, gestand der Kapitän.

»In der Hochsprache«, korrigierte ich ihn automatisch. Ich wusste einfach, dass es so heißen musste.

»In der Hochsprache«, wiederholte der Kapitän gehorsam. »Mein Name ist Van Tao. Ist es mir gestattet, Ihren Namen zu erfahren?«

»Kirill«, sagte ich und drehte mich um. »Nennen Sie mich Kirill.«

Der Kapitän fühlte sich augenscheinlich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Etwas an mir störte ihn, trotz des ihm vertrauten Rucksacks und meiner Kenntnis der Hochsprache.

»Hat Herr Kirill am Ufer die Ankunft meines Schiffs erwartet?«, fragte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

»Nein, das war für mich völlig einerlei«, antwortete ich. »Sorgen Sie bitte dafür, dass meine Sachen in Ordnung gebracht werden. In dieser Kleidung fühle ich mich wie ein Matrose und kämpfe ständig gegen den Wunsch an, die Segel zu hissen.«

»Der Herr scherzt ...« Der Kapitän lachte leise. » Verzeihen Sie die Armut dessen, was ich Ihnen anbieten kann. Meine Kleidung würde Ihnen nicht passen, die meiner Passagiere ebenfalls nicht. Es sind angesehene Händler aus dem Norden ... Soll ich sie zum Essen hinzubitten?«

»Wir sollten sie nicht über Gebühr in Verlegenheit bringen«, sagte ich. Es wunderte mich selbst, wie leicht ich in die Rolle des hochnäsigen Aristokraten schlüpfte.

Der Kapitän nickte unterwürfig.

»Ihre Familie?« Ich schaute auf die Fotografie.

»O ja!«

»Und wie sind Ihre Dinge bestellt? Bereiten Ihre Söhne Ihnen Freude?«

»Wie es guten Kindern gegenüber ihrem verehrten Vater geziemt ...«

»Wie ich sehe, sind Sie viel gereist.«

Der Blick des Kapitän huschte über die Bilder. »Ja. Damals war ich jung und handelte unvernünftig. Aber der Himmel hat mich bewahrt.«

»Ihre Heimat?«, gab ich einen Schuss ins Blaue ab und nickte in Richtung des Photos mit den Wolkenkratzern.

»Ja. Aber ich habe nichts Verbotenes getan!« In seiner Stimme schwang Angst mit.

»Natürlich nicht ...«, bemerkte ich lakonisch. Alles in mir jubilierte vor Begeisterung.

Anscheinend war ich doch im Haus der Funktionale gelandet.

Das die Hausherren allerdings schon vor langem verlassen hatten.

»Mir entgeht nicht, wie Sie sich mit der Frage quälen, wer ich sein mag«, sagte ich. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und zwei Matrosen brachten unter einer Verbeugung das Essen herein. Ich schwieg, bis sie den Raum wieder verlassen hatten, obwohl ich mir sicher war, dass sie mich nicht verstanden hätten.

»O nein, nein, Herr Kirill!«

Der Kapitän brachte es zuwege, diesen Satz so auszusprechen, dass darin sowohl eine aufrichtige Ablehnung als auch die Neugier auf meine nächsten Worte lag. So schlecht beherrschte er seine »Obersprache« nicht!

»Hören Sie«, meinte ich, ohne die geringste Vorstellung, wie ich fortfahren sollte. Aber zurück konnte ich nun nicht mehr. »Sie brauchen sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, denn Sie müssen das nicht wissen. Mein Leben ist zu langweilig und alltäglich, als dass ich damit das Gedächtnis eines so verehrten Mannes beschweren wollte. Ich war in verschiedenen Welten, liebte verschiedene Frauen, schloss mit vielen Männern Freundschaft, tötete etliche Frauen und Männer, rettete etliche. In keiner Welt fand ich Vollkommenheit vor, und das quält mich ohne Unterlass. Aber Sie sind jung, und mein Schmerz braucht Sie nicht zu bekümmern.«