Van Tao erbleichte. »Ich bitte mir zu verzeihen ... Ich habe Sie mit meinen Gedanken beleidigt ... mir scheint ...«
»Schwamm drüber.« Ich machte eine lässige Handbewegung. »Weshalb sollte auf Anhieb ins Auge springen, wer ich bin und wie viele Jahre ich zähle?«
»Man brachte mir bei ... ich habe die Menschen-über-den-Menschen immer erkannt ...«
Anscheinend hatte ich ins Schwarze getroffen.
Den Kapitän hatte weder mein Auftauchen am Ufer noch mein heruntergekommener Anblick irritiert, sondern mein Alter. Und darüber hinaus, dass er das Funktional in mir nicht erkannte. Also musste er tatsächlich in den entsprechenden Kreisen verkehren, wenn er gelernt hatte, Funktionale zu identifizieren.
»Sie haben offenbar hochstehende Bekanntschaften schließen dürfen.« Abermals nickte ich in Richtung Wand mit den Photos.
»O ja.« Der Kapitän ließ das heikle Thema meiner Herkunft freudig hinter sich. »Zweimal bin ich in die verbotenen Welten gefahren und mit vielen kostbaren Raritäten zurückgekehrt.«
Mir schoss durch den Kopf, dass man ihm diese Raritäten sehr billig abgeknöpft hatte, wenn er auf seine alten Tage gezwungen war, Händler auf seiner Jacht mitzunehmen und keinen jungen Kapitän für sein Schiff anheuern konnte. Oder etwa nicht? Schließlicht gibt es Menschen, die schaffen es, ein ganzes Vermögen durchzubringen, weshalb sie sich im Alter ihre Brötchen genauso verdienen müssen wie einst, als sie noch jung waren. Und dann gibt es noch diejenigen, die nie einen Schlussstrich ziehen können, vor allem da das Meer solche Seebären nicht freiwillig hergibt. Im Grunde erzählt Scheherazade Märchen von solch einem Manne, nämlich von Sindbad dem Seefahrer. Über einen anderen wurden vier - in manchen Welten auch sieben - Bücher von dem englischen Politiker Jonathan Swift geschrieben.
»Wollen wir essen?«, schlug ich vor. Das Essen auf den Tabletts sah extrem lecker aus. Berge von kleinen Pelmeni in geflochtenen Bambusschüsseln, eine dickflüssige Suppe in Schalen, winzige gefüllte Blätterpäckchen.
Unversehens wurde der Kapitän nervös.
»Es ist schon alles erfroren, Herr Kirill.«
»Kalt«, korrigierte ich ihn automatisch. Was als Nächstes kam, ahnte ich.
»Ich werde anordnen, es warm zu machen ... sofort ...« Geschickt schnappte sich der Kapitän die beiden Tabletts und schlüpfte aus seiner Kajüte.
Noch ein Treffer!
Vermutlich war ich gerade einem höchst exotischen Gewürz in der Suppe entkommen. Und ich hätte von Glück sagen können, wenn ich dank diesem Gewürz nur in einen tiefen Schlaf gefallen und irgendwann mit gefesselten Armen und Beinen aufgewacht wäre. Schließlich hätte ich am nächsten Morgen ... auch kalt sein können.
Ich wartete auf den Kapitän und gähnte demonstrativ.
»Ich glaube, mir ist der Appetit vergangen. Wann laufen Sie im Hafen ein?«
»Im Morgengrauen.« Der Kapitän verstand, dass ich verstanden hatte, und träumte jetzt nur noch von einem: möglichst weit weg von mir zu sein. »Die See ist unruhig, ich werde die ganze Nacht über auf Wache sein müssen, Herr Kirill.«
Wie schade, nun würde aus einem vertraulichen Gespräch mit Sicherheit nichts werden ...
Wie musste sich ein Mensch-über-den-Menschen verhalten, der wusste, dass er vergiftet werden sollte? Ein aufgeblasenes Funktional, gegen das, wenn auch unwissentlich, ein dummer Tropf etwas ausgeheckt hatte? Eine reale Gefahr drohte Funktionalen nicht, ihr Organismus würde jedes Gift verarbeiten und neutralisieren, aber die Tatsache als solche ...
»Zieh ab«, sagte ich kalt. »Sollte sich heute Nacht jemand der Tür dieser Kajüte nähern, ist das seine letzte Nacht!«
Katzbuckelnd sprang der Kapitän aus seiner Kajüte. Ich setzte mich aufs Bett und beruhigte mich. Vom Stehpult schnappte ich mir den Arbeitsamen Diener und die goldene Furche und blätterte den Band durch. O nein, dergleichen hätte sich der Zauberlehrling nicht mal in der Pubertät einfallen lassen ...
Nach einigem Suchen fand ich den Lichtschalter, ein affektiertes Ding aus Bronze und Hartgummi. Ich löschte das Licht in der Kajüte. Es wurde absolut dunkel. Die Jacht schaukelte. So wie die Wellen gegen das Schiff klatschten, musste die Jacht ein zügiges Tempo draufhaben.
Tastend fand ich das Bett und legte mich mit der festen Absicht hin, bis zum nächsten Morgen kein Auge zuzumachen.
Selbstverständlich fiel ich sofort in den Schlaf des Gerechten.
Fünfzehn
Ob wir es wollen oder nicht, aber Zwang und Drohungen sind ein Teil des täglichen Lebens von uns Menschen. Damit sind nicht einmal strenge Ultimaten gemeint, die ein Land einem anderen stellt, nicht der mit einem gezückten Messer fuchtelnde Bandit oder ein unerbittlicher Milizionär. Gemeint sind völlig schlichte und alltägliche Situationen.
»Wenn du deinen Grießbrei nicht aufisst, gibt’s keinen Zeichentrickfilm!«
»Wenn du auf dem Halbjahrszeugnis eine Drei hast, kaufen wir dir keine Rollschuhe!«
»Wenn du das Semester nicht schaffst, fliegst du von der Uni und landest in der Armee!«
»Wenn ich dich noch einmal mit Maschka sehe, ist zwischen uns alles aus!«
»Wenn du von euerm Treffen betrunken nach Hause kommst, schläfst du auf dem Sofa!«
»Wer keine Überstunden macht, darf seine Kündigung verfassen!«
»Wenn Sie die Bescheinigung nicht vorweisen, zahlen wir Ihnen keine Rente aus!«
Und ich befürchte fast, diese Sprüche stehen uns auch nach unserem Ende noch bevor: »Ohne Harfe und Heiligenschein lassen wir dich nicht ins Paradies!«
Bedrängen, überreden, zwingen - das ist eine eigene Kunst. Wir lernen sie nolens volens, indem wir den ekelhaften Brei hinunterschlucken und den Lehrer anflehen, uns eine Zwei zu geben. Von einer Drohung sollte man allerdings absehen, wenn man kein echter Profi ist.
Das begriff auch ich an jenem Morgen, als ich mich anzog, an Deck ging und mich davon überzeugte, dass ich allein auf dem Schiff zurückgeblieben war.
Ich war übers Ziel hinausgeschossen. Dieser bitteren Wahrheit musste ich ins Gesicht sehen: Ich war mit meinen Drohungen übers Ziel hinausgeschossen. Der wackere Kapitän Van Tao (und ich bezeichne ihn ohne jede Ironie als wacker) hatte das Schiff wohlbehalten in den Hafen gebracht, an der Anlegestelle vertäut - und war zusammen mit seiner Mannschaft entfleucht, unter Zurücklassung seiner gesamten Habe. Anscheinend erwartete er von einem Funktional, noch dazu einem, gegen das er sich vergangen hatte, nichts Gutes.
»In Wahrheit bin ich eigentlich ein guter Mensch«, murmelte ich an Deck der Jacht. Aber niemand hörte mich.
Auch hier gab es Berge, diesmal völlig normale Küstenberge, nicht besonders hoch, wie auf der Krim. An den Hängen zog sich eine Stadt hinunter zum Meer, eine normale Küstenstadt, ein paar hundert Jahre alt, die bei uns von Touristen absolut überlaufen wäre. Die Küste säumten zahllose Stege, weiter hinten machte ich einen Strand aus, ebenfalls ein normaler Strand an einer Küstenstadt, vom frühen Morgen an bevölkert von Menschen. Alles sah absolut banal aus, fast als wäre ich auf der Erde.
Wenn da nicht ...
Zum einen gab es nirgendwo Antennen, Leitungen oder elektrische Laternen. Es gab keinen Strom.
Zum anderen waren die meisten Häuser typisch für den Mittelmeerraum und vom Stil her europäisch. Weiter die Berge hinauf machte ich jedoch Pagodendächer aus und eine Architektur, die eher asiatisch wirkte. War das ein hiesiges China-Town?
Schließlich entdeckte ich hoch oben in den Bergen, von der Stadt durch einen Waldstreifen getrennt, einen Bau von höchst bizarrer Form, eine Ansammlung futuristischer Wolkenkratzer aus Glas, Metall und Beton, die sich sanft fließend um ein unsichtbares Zentrum wanden. Es sah aus wie ... wie ein halb aufgeklappter, in sich gedrehter Fächer. Er nahm sich in dieser Umgebung derart deplatziert aus, dass er nicht einmal sofort ins Auge sprang. So fehl, wie er am Platze war, filterte das Bewusstsein ihn völlig aus.