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»Willst du auch?«, fragte der Fahrer. Da er anscheinend zu dem Schluss gelangt war, dass ich nicht die Absicht hatte, ihn zu überfallen und mir sein Auto anzueignen, taute er etwas auf.

»Gibt es hier ein Klo?«

»Im Laden.«

»Ich vertret mir mal die Beine.«

Nachdem ich wieder zurück war, nahm ich den angebotenen Kaffee, öffnete die Dose und trank einen Schluck. Wir verließen die Tankstelle und fuhren weiter. Langsam tagte es. Ich rauchte eine, wobei ich das Fenster ganz heruntergelassen hatte. Die Luft war kalt und frisch, der Winter hatte hier noch keinen Einzug gehalten, sodass mich meine Reise zurück in den Spätherbst brachte.

»Du bist ein komischer Vogel«, brummte der Fahrer plötzlich. »Irgendwie einer von uns ... und gleichzeitig doch nicht. Kein Verbrecher, aber mit Geld wirfst du nur so um dich. Dann schläfst du ein ... Was, wenn ich dir eins übergezogen hätte und du im nächsten Graben gelandet wärst?«

»War mir doch klar, dass du mir keins überziehst«, widersprach ich.

»Ach, das war ihm klar!« Der Fahrer schnaubte bloß.

Das Auto polterte über die nächtliche Straße. Wir wurden ordentlich durchgeschüttelt, denn die Straße, die erst im Frühjahr ausgebessert worden war, war zum Winter schon wieder aufgerissen.

Woher wusste ich, wann die Straßenarbeiten vorgenommen worden waren? Woher kannte ich die Entfernung zwischen den Städten?

Und woher in drei Teufels Namen wusste ich, dass die Frau des Fahrers Oxana hieß, zehn Jahre jünger war als er und den Rest der heutigen Nacht im Bett ihres Nachbarn verbringen würde - mit stillschweigender Duldung ihrer bei ihnen lebenden Mutter.

Den Namen des Fahrers wiederum kannte ich nicht.

Waren das Reste meiner Funktionalfähigkeiten? Die sich ganz willkürlich zeigten?

»Du bist wirklich seltsam«, meinte der Fahrer noch einmal.

»Ich weiß.«

»Was ist dir wichtiger, Kumpel, möglichst schnell in Charkow zu sein oder dir nicht wie der letzte Idiot vorzukommen?«

»Du stellst Fragen!«, stöhnte ich. »Wär’ nett, wenn sich beides machen ließe. Am Ende wäre es mir aber wichtiger, schnell anzukommen.«

»Dann lass ich dich in Belgorod am Busbahnhof raus. Ich bring dich sogar zu einem von den Taxifahrern, die da stehen. Die haben ihre Abkommen mit den Grenzern und werden schnell durchgelassen. Uns beide würden die Typen ein paar Stunden aufhalten. Das würde dich nur fünfhundert Rubel kosten.«

»In Ordnung.« Ich nickte. »Akzeptiert. Und für wie viel hättest du mich nach Belgorod gebracht? Wenn ich mich von Anfang an mit dir darauf geeinigt hätte?«

»Bei dreitausend hättest du einsteigen können!«, erklärte der Fahrer mit unverhohlener Genugtuung.

»Verstanden. Soll mir’ne Lehre sein.«

Eine Weile fuhren wir schweigend weiter. »Hör mal«, brachte der Fahrer schließlich hervor, »die fünfhundert in Belgorod übernehm ich.«

»Warum das?«, wollte ich wissen. »Das würde ich nie vor dir verlangen ...«

»Ich bin Taxifahrer, kein Abzocker.« Der Mann holte eine Zigarette aus seiner Camel-Schachtel. »Das ist meine Arbeit, und da will ich ein reines Gewissen haben. Außerdem ...« Er schielte mich aus den Augenwinkeln an. »... zu feilschen, um mehr Geld rauszuschlagen, das geht in Ordnung. Und bei einem Ukrainer hätte ich vermutlich auch jetzt keine Probleme ... Aber wo du kein Fass aufmachst, dein Geld nicht zurückverlangst, da will ich mich auch anständig verhalten. Ich bin nämlich der Ansicht, wenn die Leute ihre Arbeit endlich mit Begeisterung machen würden und Respekt vor ihrem Beruf hätten, dann würde schon alles ins Lot kommen.«

Beinahe hätte ich laut losgelacht. Stattdessen sagte ich jedoch kein Wort, sondern nickte nur, um mein Einverständnis mit diesem Motto zu bekunden, das eines echten Funktionals würdig war.

Sie sind schon seltsam, diese kurzen Bekanntschaften. Normalerweise macht man sie auf Reisen, manchmal aber auch zu Hause. Wir treffen jemanden, unterhalten uns, essen und trinken gemeinsam. Manchmal kommt es zu Streit, manchmal zu Sex - aber danach geht man für immer auseinander. Doch der zufällige Trinkgenosse, mit dem du ein Herz und eine Seele bist, bis ihr euch Gemeinheiten an den Kopf werft, oder die sich langweilende junge Zugbegleiterin, mit der du beim Rattern der Räder das Bett geteilt hast, und, in der prosaischsten aller Varianten, der Taxifahrer, der dich ein paar Stunden lang durch die Gegend chauffiert - sie alle stehen für ein nicht in Erfüllung gegangenes Schicksal.

Mit dem Trinkgenossen zerstreitest du dich derart, dass er dich absticht. Oder du ihn.

Bei der Zugbegleiterin fängst du dir Aids ein. Oder sie wird deine treue und dich liebende Ehefrau.

Der Taxifahrer ist derart auf euer Gespräch konzentriert, dass er gegen einen Betonpfosten knallt. Oder ihr steckt in einem Stau fest, du kommst irgendwo nicht rechtzeitig an, erhältst eine Abmahnung, musst dir eine neue Arbeit suchen, fährst in ein anderes Land, triffst dort eine andere Frau, zerrüttest eine fremde Familie und verlässt deine eigene ...

Jede Begegnung ist ein winziger Einblick in eine Welt, in der du leben könntest. Und der aalglatte Beamte Sascha ist genau wie der Taxifahrer aus der Provinz, den seine Frau nachts betrügt, dein nicht in Erfüllung gegangenes Schicksal. Und diese Schicksale interessieren mich.

Vor allem, nachdem ich am eigenen Leib erfahren hatte, wie leicht unsere Schicksale aus dem Leben zu löschen sind.

Fröstelnd bohrte ich die Hände tief in die Taschen (letzten Endes war es selbst hier im Süden kalt) und wanderte durch die morgendliche, gerade erst erwachende Stadt. Zu dumm, dass ich Wassilissa nicht nach ihrer Adresse gefragt hatte. Aber wie hätte ich ahnen können, dass ich sie je brauchen würde?

In einem Imbiss mit leicht ukrainischem Anstrich bestellte ich eine Portion Wareniki, einen Teller Borschtsch, Kaffee und - nach kurzem Zögern - einen Kognak, um wieder warm zu werden. Zu meiner Überraschung stellten sich die Teigtaschen als handgemacht und lecker heraus, zur Suppe reichte man ein köstlich nach Knoblauch duftendes Hefebrötchen, beim Kaffee handelte es sich um einen vorzüglichen Espresso, und der Kognak - oder, ehrlich gesagt, der ukrainische Brandy - zog mir keineswegs den Kiefer zusammen. Obendrein verkehrten in diesem Imbiss junge Frauen, die im Vergleich zu den Moskauerinnen sehr viel sympathischer wirkten. Ich hatte immer geglaubt, in Moskau würden sehr sympathische Frauen leben, aber Charkow lief eindeutig außer Konkurrenz. Bei der fünften oder sechsten Frau, die ich auf der Stelle kennenlernen wollte, hielt ich es schließlich für geboten, meinen Kaffee auszutrinken und hinaus in den ekelhaften Sprühregen zu fliehen.

Die Straße brachte mir allerdings auch keine Erleichterung. In der Nähe musste es ein großes Institut oder eine Universität geben, wohin die Studenten - und Studentinnen! - zu ihren ersten Veranstaltungen eilten. (Gab es in Charkow überhaupt eine Uni? Ich wusste es nicht, und meine Intuition ließ mich im Stich.) Schon nach einer Minute ertappte ich mich dabei, wie ich eine Frau neben mir offen angaffte, die mir daraufhin ein freudestrahlendes Lächeln schenkte. Sofort bog ich scharf ab und murmelte: »Wird Zeit, dass Sie heiraten, gnädiger Herr ...«

Leider war ich nicht hierhergekommen, um eine Freundin zu finden. Und auch nicht wegen der Wareniki.

Ich setzte mich auf eine Bank im Hof eines alten zweistöckigen Hauses, bei dem der Putz abbröckelte, die kleinen Balkons mit den bauchigen, rissigen Balustraden auf Stücken von Eisenbahnschienen ruhten und wenige weiße Thermofenster von den ansonsten alten grauen Rahmen abstachen. Etwas an diesem Haus erinnerte seltsam an Moskau, und zwar an das alte Nachkriegsmoskau. Ob es womöglich tatsächlich von Moskauer Maurern gebaut worden war? Während des Kriegs war Charkow heftig umkämpft gewesen und fast dem Erdboden gleich gemacht worden. Danach hatte sich das ganze Land am Wiederaufbau beteiligt, weshalb die Stadt stellenweise an Moskau erinnerte, stellenweise an andere Städte.