Выбрать главу

Ich versuchte, die Leute um mich herum nicht allzu offen anzustarren. Schließlich dürften meine Kleidung und mein Äußeres mich ohnehin als Fremden verraten.

Freilich, die Kleidung war genauso bunt und vielfältig wie die Gesichter, weshalb meine Ängste eigentlich unbegründet waren.

Da stand ich also, friedlich in der Morgensonne blinzelnd, ein hiesiger Saufbruder in zerfetzten Hosen und schmutziger, offenbar ererbter Jacke. So jemanden kannst du in einer Moskauer Straße abstellen oder in die New Yorker U-Bahn - er würde nirgendwo auffallen. Und den Unterschied wahrscheinlich selbst nicht mal merken ...

Genau wie du einen hellhaarigen und weißhäutigen Lastenträger mit einem aristokratischen Gesicht nur zu waschen und neu einzukleiden brauchst, damit er getrost zu einem Empfang der englischen Königin geschickt werden kann und sich dennoch in der Menge von Lords, Sirs und Peers verliert.

Insofern bestand kein Grund zur Panik. Auch ich würde mit der Menge verschmelzen. Ich war in einer Stadt mit zwanzig- oder dreißigtausend Einwohnern gelandet. Wenn es hier Händler und Seeleute gab, musste es auch Touristen geben. So weit, so gut. Jetzt würde ich mir eine Unterkunft suchen, abtauchen, ausschlafen, in aller Ruhe Informationen sammeln - und mich auf eine Tour in die Berge vorbereiten. Zu diesem Wolkenkratzer führten bestimmt keine ausgetretenen Pfade. Andererseits brauchte ich wohl auch nicht mit irgendwelchen Absperrungen zu rechnen. Die Funktionale dürften sich da oben ziemlich sicher fühlen.

Nach zwanzig Minuten fand ich mich im Hafenviertel einigermaßen zurecht. Hier gab es Lagerhallen (eine Gegend wie geschaffen für ein Portal, nur eben nicht auf Erde-16, wo einen die Durchgänge nicht in bewohnte Städte brachten), ein paar kleinere Märkte, auf denen gerade lautstark der morgendliche Fischfang feilgeboten wurde, und Wohnviertel, eindeutig nicht die besten infolge der Nachbarschaft besagter Hallen und Märkte. Mit meinen bescheidenen finanziellen Mitteln musste ich es mir aber sowieso verkneifen, nach etwas Luxuriöserem zu suchen. Wie ich den Aushängen der Restaurants und Hotels entnahm, auf die ich unterwegs immer wieder stieß, kostete eine Nacht in einem Hotel in der Regel eine Mark (für eine Woche verlangte man fünf Mark, im Voraus), essen konnte man für zwanzig bis dreißig Kopeken. Nein, natürlich nicht wirklich für Kopeken, sondern für das lokale Äquivalent. Warum mein funktionalsbedingter Auto-Übersetzer die hiesige Währung in Mark umrechnete, die er dann in hundert Kopeken unterteilte, blieb mir ein Rätsel. Vermutlich rein zufällig. Die Anschläge konnte ich übrigens auch lesen: Eine Nacht - ein Yuan, ein Mittagessen - fünfundzwanzig Centimes.

Irgendwann entschied ich mich für ein kleines zweistöckiges Hotel, ein schmales Haus, das zwischen zwei höheren und breiteren Gebäuden eingezwängt war. Vielleicht gefiel mir gerade, dass mich das ein wenig an die Bauten der Funktionale erinnerte. Oder mich überzeugte der Sinn für Humor, den die Besitzer an den Tag legten, indem sie ihr Hotel Rotes Pferd ohne Eier nannten.

Obwohl für die Leute hier der - unübersetzte - Name weniger obszön klang: Roter Wallach.

Als ich eintrat, klimperten Glocken über der Tür. Ich sah mich um. Vermutlich handelte es sich hier um ein Restaurant mit Zimmervermietung, nicht mal ein eigenes Foyer entdeckte ich. Vier kleine Tische standen in dem Raum, Stühle, dahinter führte eine Treppe nach oben. Eine kräftige rotblonde Frau, die die Tische abwischte, wandte sich mir zu und steckte den Lappen in die Tasche ihrer Schürze.

»Ein Frühstück?«, fragte sie.

»Ich würde gern bei Ihnen ein Zimmer mieten.«

»Warum auch nicht?«, erwiderte die Frau. »Und warum ausgerechnet bei uns?«

»Der Name gefällt mir.«

»Roter Wallach? Kennen Sie denn meinen Vater?«

»Äh ... also ...«, stotterte ich. »Ich glaube nicht. Ist denn der ... also ... ist das wegen ...«

»Ja? Natürlich, ihm zu Ehren, was haben Sie denn gedacht?« Die Frau trat an einen kleinen Schrank an der Wand heran und kramte einen fettigen Block und einen Bleistiftstummel heraus. »Wissen Sie, wie viele Kinder meine Mutter hat?«

»Sieben?«, schlug ich vor, warum auch immer. Die Art, wie diese Frau das Gespräch führte, musste mich angesteckt haben.

»Sieben? Elf! Was sagen Sie dazu?«

»Wenn alle so sind wie Sie, warum auch nicht.« Ich lächelte frech.

Nachdem sich die Frau die Antwort hatte durch den Kopf gehen lassen, lächelte sie ebenfalls. »In Gegenwart meiner Mutter verzichten Sie aber lieber auf solche Späße, ja?«

Inzwischen hatte ich auch verstanden, dass ich auf ihre Fragen nicht unbedingt zu antworten brauchte.

»Gibt es im ersten Stock keine Zimmer?«, fragte die Frau entweder sich selbst oder ihren Block. »Nein? Und im zweiten? Würden Sie auch die Mansarde nehmen?«

»Ja.«

»Für eine Nacht?«

»Für eine Woche?«

»Einen Fünfer.«

Ich hielt ihr schweigend den Schein hin, den sie kommentarlos entgegennahm und der daraufhin ebenfalls in der Tasche ihrer Schürze verschwand.

»Sie wissen, dass es jetzt kein Frühstück mehr gibt?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Also gut, wollen Sie etwas essen?«

Ich nickte.

»Mama?« Die Frau hatte die Stimme erhoben. »Mama, ist noch was übrig?«

Eine unscheinbare Tür öffnete sich, es roch nach Essen.

»Für wen.«

Im Unterschied zur Tochter verzichtete die Mutter auf die fragende Intonation. Ich verstand sie durchaus. Eine von der Sorte in der Familie reichte vollauf.

»Für einen Gast, der mit der Mansarde einverstanden ist und für eine Woche im Voraus bezahlt hat, haben wir für den noch was zu essen?«

»Ja.«

Ich setzte mich an einen Tisch, der bereits abgeräumt worden war. Die Heldenmutter tauchte nach wie vor nicht auf, das Essen brachte mir ihre Tochter. Kleine Stücke Bratfisch, Brot, eine dicke schwarze Soße, eine Teekanne und eine Tasse und Stäbchen. Letztere keine Einwegstäbchen, aber sauber abgewaschen. Hier und da musste die chinesische Kultur doch triumphale Siege errungen haben.

»Schmeckt’s?«, fragte die Frau, die beobachtete, wie ich den Fisch in die Soße tunkte. Nur gut, dass es in Moskau jede Menge japanischer und chinesischer Restaurants gab, denn wenn ich nicht mit Stäbchen hätte umgehen können, wäre sie vielleicht misstrauisch geworden.

»Hmm«, brummte ich. Lecker oder nicht - ich hatte einfach noch nie Fisch zum Frühstück gegessen. Aber immerhin war er frisch, das machte vieles wett.

»Kommen Sie von auswärts?«

»Warum sollte ich sonst in einem Hotel wohnen?«

»Na, vielleicht hat Ihre Frau Sie ja aus dem Haus gejagt?«, brachte sie hervor, wobei sie offenbar ihren eigenen Gedanken nachhing.

Ich hatte noch nicht auf diese interessante Vermutung geantwortet, als die Eingangstür einen Spalt geöffnet wurde. Eine schmale Hand schob sich herein und fasste mit geübtem Griff nach dem Glockenspiel. Der Hand folgte geschmeidig ein hagerer, nicht sehr großer rotblonder Mann mit hoher Glatze in fortgeschrittenem Alter. Der Ausdruck »halbe Portion« schien wie für ihn geschaffen.

»Papachen?«, schnappte die Frau. »Du? Mama hat versprochen, dich umzubringen, weißt du?«

»Ich weiß ja, ich weiß ...«, flüsterte der Mann, während er sich weiter vorwagte. »Ich habe gearbeitet.«

»Gearbeitet?«, fragte die Frau ungläubig.

»Ja, gearbeitet!«, antwortete das rote Pferd mit dem anatomischem Defekt scharf. »Hier!«

Er kramte aus seiner Tasche ein paar Münzen, die er vorsichtig auf dem Handteller schüttelte. Da die Dinger aus Alu waren, entstand nur ein ganz zartes Geräusch.

Aber selbst das reichte.

Die Küchentür ging auf. »Komm her, du geiler Bock«, ließ sich eine barsche Stimme vernehmen.

Der Mann warf mir einen traurigen Blick zu und zuckte mit den Achseln. »Frauen ...«, flüsterte er in überraschend zärtlichem Ton. »Was will man da machen?«