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Er schmatzte seiner Tochter einen Kuss auf die Wange - dafür musste er sich auf die Zehenspitzen stellen - und stapfte tapfer in Richtung Küche.

Die Frau und ich lauschten angespannt.

Leise Stimmen klangen herüber.

Dann das Geräusch eines Kusses.

Dann schepperte etwas, als sei jemandem eine Pfanne aus den kraftlos herabhängenden Händen gefallen.

Die Frau fing an, den bereits sauberen Tisch abzuwischen. »Sie verspricht das immer, aber ob sie ihn je kaltmacht?«, murmelte sie.

Aus der Küche erschallte ein leidenschaftliches Stöhnen. Geschirr klapperte. Die Tür fiel krachend ins Schloss.

Die Frau wurde knallrot, was zusammen mit ihrem rotblonden Haar ein Bild für Götter ergab.

»Nein, sie bringt ihn nicht um«, versicherte ich. »Was sagten Sie, wie viele Kinder Ihre Mutter hat? Elf?«

Sie brachte es fertig, sogar fragend zu nicken.

»Oh, oh«, gab ich leutselig von mir. »Vielen Dank für das Essen, es war sehr lecker. Bringen Sie mich jetzt nach oben?«

Keine Ahnung, was sie dachte, aber sie antwortete scharf: »Gehen Sie ruhig allein, Sie werden sich schon nicht verlaufen.« Und als fiele ihr auf, dass in ihrer Aussage irgendwas nicht stimmte, fügte sie hinzu: »Ganz nach oben, da ist nur eine Tür, haben Sie das verstanden?«

Die Mansarde war wirklich nicht das beste aller Zimmer. Das Dach war so spitz, dass ich nur in der Mitte des Raums aufrecht stehen konnte. Möbel wurden lediglich von einem - zum Glück recht großen - Bett und einem runden Tisch daneben, der die Rolle des Nachttischchens übernommen hatte, repräsentiert. Bei dem Tisch handelte es sich übrigens um ein außerordentlich schönes Stück, dessen Platte mit Perlmuttintarsien verziert war, die, wenn auch extrem zerkratzt, das Auge freuten. Eine Luke im Boden versperrte den Zugang zur Treppe.

Mit Sicherheit kostete dieses Zimmer nicht so viel wie die anderen.

Immerhin war das Bettzeug sauber, die Matratze nicht durchgelegen und das Kopfkissen weich. Direkt überm Bett gab es ein Fenster, eingelassen in den Giebel des Hauses. Mir bot sich eine herrliche Aussicht, die Straße hinunter bis zu den Bergen, auf die vorbeiziehenden Wolken und den Wolkenkratzer in Form eines in sich verdrehten Fächers.

Nach kurzer Überlegung entschied ich, von einer Beschwerde abzusehen. Ehrlich gesagt bringe ich so was nicht über mich.

Damit hatte ich also fürs Erste einen Ankerplatz. Die Gesellschaft vor Ort machte bei aller Eigenwilligkeit keinen schockierenden Eindruck auf mich und mutete nicht totalitär an. Jetzt musste ich mir bloß noch über etwas absolut Simples klar werden: Was sollte ich als Nächstes tun? An Deck der Jacht hatte ich große Töne gespuckt, als ich den abwesenden Funktionalen versprochen hatte, sie sollten sich auf was gefasst machen ... nämlich mindestens auf ein Meer von Blut und einen Sack voll Knochen als Zugabe. Schön und gut, aber jetzt mal im Ernst. Die MPi war mir beim Sturz ins Meer abhandengekommen. Das Magazin mit den Patronen befand sich zwar noch in meinem Rucksack, nützte mir aber logischerweise nicht viel. Sicher, eine Waffe würde ich schon auftreiben, nur dürfte das wohl kaum eine Schusswaffe sein. Außerdem hatte ich im Grunde kein Geld.

Was war mit meinen Funktionalsfähigkeiten?

Auf die zu bauen wäre absolut naiv. Leider. Selbst wenn ich recht hatte und die Fähigkeiten im Moment der Wahl durchbrachen. Selbst wenn ich meinen Feinden - vollwertigen Funktionalen, darunter Polizisten und Soldaten - an Kraft überlegen wäre. Selbst wenn sie außerstande wären, meinen Kräften etwas entgegenzusetzen.

Denn wer garantierte mir, dass der Moment der Wahl ausgerechnet mit dem Kampf gegen meine Feinde zusammenfiel? Genauso gut könnte ich ja auf dem Weg zu ihnen vorübergehend allmächtig sein - was mir ungefähr so viel nützen würde wie ein Regenschirm unter Wasser.

Nein, ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.

Zum Beispiel Verbündete suchen. In nahezu allen Welten existierte eine Art Widerstandsbewegung gegen die Funktionale. Selbst auf der Erde war das der Fall, wenn auch nur in schwacher Form. Hier jedoch, wo auf dem Gipfel des Berges dieser unsägliche Wolkenkratzer aufragte, wo arkanische Soldaten auftauchten, wo unglaubliche technische Artefakte zu finden waren, musste es einfach Widerstand geben. Also brauchte ich die Leute aus dem Untergrund bloß aufzuspüren und ihnen ein Bündnis anzutragen ...

Jemand klopfte an die Luke.

»Herein!«, rief ich, obwohl es logischer gewesen wäre zu sagen: »Herauf!«

Die Luke wurde krachend aufgeklappt, ein rotblonder Schopf tauchte auf. Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren. Ein weiterer Sprössling des liebestüchtigen Mannes?

»Ich bringe Ihnen eine Kerze«, teilte der Junge mir mit. »Hier.«

Er hielt mir einen Kerzenhalter aus Ton, in dem ein mickriger Kerzenstummel steckte, sowie eine halbleere Schachtel Streichhölzer hin. Weiß Gott, was für eine Zivilisation!

»Sag mal, Junge«, meinte ich in beiläufigem Ton, »was ist das für ein Gebäude?«

»Wo?« Der Junge kam nur zu gern hoch in die Mansarde geklettert, um zum Fenster rauszuschauen.

»Das da, auf dem Berg ...«

»Auf dem Berg? Ach! Das ist die Villa von so einem reichen Kerl. Ich wusste mal, wie er hieß, aber ich hab’s vergessen. Er hat viel Geld für die Stadtbibliothek gespendet.«

»Eine Villa?«, fragte ich begriffsstutzig zurück. Genau in dem Moment ging mir jedoch auf, was der Junge meinte. Am Hang eines Berges, dort, wo der Wald, der den Wolkenkratzer umgab, noch nicht angefangen hatte, erhob sich ein recht großes Steinhaus. Ringsum lagen Felder. Vielleicht Orangenhaine, vielleicht Oliven oder Äpfel, das ließ sich auf die Entfernung nicht entscheiden. »Und darüber?«

»Darüber?«, wunderte sich der Junge. »Darüber sind nur Berge.«

Alles klar. Wie jeder andere Bau der Funktionale war auch dieser Wolkenkratzer für normale Menschen unsichtbar. Genauer, er entzog sich ihrem Blick. Wenn ich dem Jungen präzise beschrieben hätte, wohin er gucken musste, ihm exakt geschildert hätte, was er sehen würde, hätte er den Wolkenkratzer vermutlich bemerkt. Genau wie ja auch entsprechend instruierte Menschen meinen Turm gefunden hatten und durch ihn von einer Welt in eine andere spaziert waren ...

Doch warum sollte ich im Kopf dieses unschuldigen Teenagers ein solches Chaos, eine solche Verwirrung stiften? Da stand kein Haus, hatte noch nie eins gestanden...

»Ja, du hast recht. Ich habe geglaubt, da eine Hütte zu sehen«, bemerkte ich in traurigem Ton.

»Vielleicht steht da ja auch eine«, versuchte der Junge mich zu trösten. »Vielleicht haben Sie ja sehr scharfe Augen. Ich habe einen Freund, der hat vielleicht einen Adlerblick. Auf dreißig Schritt Entfernung schießt er eine Taube mit dem Katapult ab!«

»Die arme Taube.«

»Also ... er ist ...« Der Junge geriet in Verlegenheit. »Das haben wir gemacht, als wir noch klein waren ... Brauchen Sie noch was? Unterm Bett steht ein Topf, aber den müssen Sie bei uns selbst leeren. Im Hof ist ein Plumpsklo. Waschen können Sie sich unten, wenn Sie hier eine Kanne mit hochbringen, zerdeppern Sie die nachts bestimmt ... Es ist eben alles ziemlich eng.«

»Ein bisschen eng ist es schon«, pflichtete ich ihm bei. »Sag mal, wo ist denn eure Bibliothek? Die, für die der reiche Kerl Geld gespendet hat?«

»Das ist ganz einfach! Sie gehen die Straße runter, bis zum Platz mit dem Springbrunnen. Der ist kaputt, aber Sie erkennen trotzdem, dass es ein Springbrunnen ist. Dann nach rechts bis zum nächsten Platz. Der Springbrunnen da funktioniert, wenn es nicht zu heiß ist. Da steht ein hohes Haus mit Säulen...«

Durch eine unbekannte Stadt zu spazieren ist - wenn man wunde Füße vermeidet, nicht zu schnell ermüdet, wenigstens ein bisschen Geld in der Tasche und ein paar Tage Urlaub hat - eine der schönsten Beschäftigungen überhaupt. Man darf auf mein Wort vertrauen: Wenn sich diese Stadt in einer anderen Welt, im Grunde auf einem anderen Planeten befindet, verleiht das einem solchen Spaziergang nur zusätzlichen Reiz.