Auf meinem Weg zur Bibliothek gewann ich einen ersten Eindruck vom wissenschaftlichen und technischen Potenzial dieser Welt.
Erstens: Hier gab es zwar Elektrizität, doch sie war ein Privileg der Reichen. Ich stieß auf ein Geschäft (es bloß »Laden« zu nennen wäre trotz der geringen Größe nicht angemessen), in dem die unterschiedlichsten Lampen und Glühbirnen verkauft wurden. Die Birnen waren absolut simpel, mit einem stinknormalen Gewinde. Ich nehme an, ich hätte sie einfach in eine Fassung in meiner Moskauer Wohnung schrauben können - und sie würden problemlos brennen. Der Strom wurde aber nicht unbedingt im Hause erzeugt, ein Anschlag an den Türen versprach: »Verlegung solider Leitungen und Überprüfung, ob Abzapfen des Stroms durch Dritte erfolgt«.
Zweitens: Ich entdeckte einige Bekleidungsgeschäfte, die mir klarmachten, dass Fabriken in unserem Sinne nicht existierten. Die Kleidung wurde individuell angefertigt und im Laden genäht, nur Strümpfe und Unterwäsche konnte man bereits fertig kaufen. In meiner Welt waren die Standardgrößen aufgekommen, um den Bedürfnissen der Armee Rechnung zu tragen, die in großer Zahl bereits fertige Uniformen brauchte. Damals mussten Abertausende von Menschen in kurzer Zeit eingekleidet werden, worauf ein paar kluge Köpfe die Idee hatten, eine Datenbank zu den Größen der Rekruten anzulegen und die Kleidung nicht mehr für einen konkreten Mann, sondern für ganze Gruppen von Menschen anzufertigen.
Anscheinend gab es hier niemanden, gegen den man hätte Krieg führen können. Die Zahl der Bevölkerung auf der gesamten Insel dürfte die Millionengrenze kaum überschreiten. Möglicherweise war diese Stadt sogar die einzige bewohnte Oase auf dem ganzen Planeten.
Drittens: Ich entdeckte einen Waffenladen. Seine Fenster waren vergittert, im Schaufenster lagen die aus Sicht der Verkäufer interessantesten Stücke aus. Pfeil und Bogen, Armbrüste und ein doppelläufiges Gewehr mit Hinterstück. Doch nach der Erfindung oder Einführung der Waffen mit glattem Lauf und von Patronen musste das lokale Waffengenie dann die Hände in den Schoß gelegt haben. Jedenfalls stieß ich nicht auf den geringsten Hinweis auf Büchsen oder Maschinenpistolen.
Aber wofür hätten sie die auch gebraucht? Was hätten sie hier auch jagen sollen? Überhaupt waren Büchsen ein Kind des Krieges, der Jagd der Menschen aufeinander ...
Darüber hinaus erfuhr ich, dass mich selbst diese primitive Feuerwaffe mehr als tausend Mark kosten würde - für mich unerschwinglich.
Viertens: Um die Religion war es hier irgendwie nicht sonderlich gut bestellt. Ich sah nicht eine einzige Kirche, nur in Richtung des chinesischen Viertels erspähte ich ein Dach, das mit seinen leuchtenden Farben an einen buddhistischen Tempel erinnerte.
Und fünftens: Die Zeitungen. Einmal begegnete mir ein Zeitungsjunge, der seine Ware anpries. Ich wollte mich schon von zehn Kopeken trennen, als ich bemerkte, dass es auf dem Platz mit dem kaputten Springbrunnen einen Schaukasten mit genau dieser Zeitung gab, durch Glas gegen Schlechtwetter geschützt. Die meisten Leute reagierten nicht auf die Ausrufe des Zeitungsjungen, sondern zogen es vor, sich vor dem Kasten zu versammeln und dort das Presseerzeugnis zum Nulltarif zu lesen.
Ich schloss mich ihnen an, was mir weniger brauchbare Informationen als vielmehr ein echtes Vergnügen einbrachte. Das Lokalblatt mit seinen zwei Seiten und der vollmundigen Bezeichnung Allgemeine Zeit (ist schon mal jemandem aufgefallen, dass der Titel einer Zeitung umso klangvoller ist, je schmaler das Blatt selbst daherkommt?) berichtete hauptsächlich über Neuigkeiten in der Stadt, ging jedoch mit wenigen Notizen auch auf die Nachbardörfer ein.
Ich erfuhr, dass gestern am späten Abend die beliebte junge Sängerin Ho in übelster Weise von einem Rowdy beschimpft worden war, als sie von einem Konzert auf dem Weg nach Hause war. Der Rowdy brachte seine Enttäuschung über ihren Gesang zum Ausdruck, der Liebhaber (ja, derart unumwunden wurde das benannt, Liebhaber, der Bigotterie huldigte man hier nicht) der Sängerin erteilte dem Kerl eine verdiente Abfuhr und beförderte ihn »in ebendie Pfütze, für deren Trockenlegung unsere Zeitung schon seit zwei Wochen plädiert«.
Irgendwelche Ganoven waren nachts in das Juweliergeschäft des Herrn Andreas eingebrochen, mussten jedoch eine Enttäuschung hinnehmen: Geld und Schmuck lagen in einem soliden Safe, den sie nicht öffnen konnten. Ihre Frustration ließen die Diebe an den Vitrinen aus, die sie zertrümmerten (aus unerfindlichen Gründen mit den Absätzen). In dem Moment sei jedoch der Bezirkspolizist aufgetaucht, der die Verbrecher zwar nicht verhaften, ihnen aber immerhin »ordentlich eins mit dem Knüppel über die Rübe« ziehen konnte. Nach den flüchtigen Missetätern wurde gefahndet.
Der Skandal, den der Einsturz einer kürzlich erbauten Brücke hervorgerufen hatte, war beigelegt worden, da der Auftragnehmer seine Schuld eingeräumt und versprochen hatte, die Brücke neu zu bauen.
Im Feuilleton schimpfte ein Journalist, der sich hinter dem mich zum Lachen bringenden Pseudonym Hai Feder verbarg, bitterlich auf die Fischer, die es wagten, ihren an einem Morgen nicht verkauften Fang auf Eis zu legen und ihn der Kundschaft am nächsten Morgen anzudrehen. Er lieferte gleich noch ein paar hilfreiche Ratschläge, wie die Frische der Fische überprüft werden könne.
In einem endlosen, fast die ganze Seite einnehmenden und - wie in solchen Fällen üblich - stinklangweiligen Artikel beklagte ein Beamter der Stadt den Verfall der Sitten, die schlechte Steuermoral und die Despektierlichkeit der Bürger gegenüber den städtischen Regierungsstellen, welche doch heroisch und geduldig durch die Bank all ihre Funktionen erfüllten.
Das Wort »Funktionen« brachte mich abermals zum Lachen. Ich fürchte, die Umstehenden hielten mich allmählich für einen Idioten.
Zum Abschluss folgten ein Kreuzworträtsel und Horoskope!
Was wäre eine Zeitung auch ohne diese beiden Rubriken!
Die Sterne standen heute günstig für Fische und Widder sowie für diejenigen, die unter dem Zeichen des Feuerdrachen und unter dem Signum der Blauen Pappel geboren waren, und für all diejenigen, deren Name drei Vokale und vier Konsonanten enthielt. Schützen und Holzmäuse, die unter dem Zeichen der Schattenreichen Eiche geboren worden waren, litten, ein Unglück widerfuhr allen, deren Name drei Konsonanten und einen Vokal enthielt.
Mir versprachen die Sterne nichts Besonderes.
Kurz und gut, eine ganz normale Zeitung in einer ganz normalen Kleinstadt.
Wenn da nicht der Wolkenkratzer auf dem Berg wäre, gäbe es hier ohnehin nichts Bemerkenswertes.
Da es anfing zu regnen, beschloss ich, meine Bekanntschaft mit der hiesigen Presse zunächst nicht fortzusetzen. Schließlich würde es in der Bibliothek weitaus bequemer sein, der Leidenschaft fürs gedruckte Wort zu frönen.
Sechzehn
Schon seit längerem habe ich den Eindruck, dass die kurze Periode vorüber ist, in der das Lesen von Büchern eine allgemein verbreitete Unterhaltung war. Der Film, egal, wie sehr er sich das wünschte, stellte keine echte Konkurrenz dar, denn ein Kinobesuch war immer ein besonderes Erlebnis, während ein Buch stets zur Hand war. Der Fernseher konnte es selbst mit Farbe und Riesenbildschirm nicht allen recht machen, dafür hätte die Zahl der Kanäle der Zahl der Bevölkerung entsprechen müssen.
Videos jedoch und später der Computer haben dem Buch den entscheidenden Schlag versetzt. Filme sind Bücher für geistig Arme. Für diejenigen, die nicht in der Lage sind, sich einen Krieg der Welten vorzustellen, sich auf die Brücke der Nautilus zu versetzen oder ins Arbeitszimmer von Nero Wolfe. Ein Film ist eine breiige Kost, reich mit dem Zucker der Spezialeffekte gesüßt, die man nicht zu kauen braucht. Mund auf und runtergeschluckt! Ähnlich verhält es sich mit Computerspielen. Die sind ein lebendiges Buch, bei dem man die Wahl hat, auf wessen Seite man kämpft: »für die Kommunisten oder für die Bolschewiken«.