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Damit hat das Lesen seinen ursprünglichen Charakter zurückgewonnen. Wie einst ist es auch heutzutage ein Vergnügen für Intellektuelle. Bücher sind wieder teurer, die Auflagen geringer, fast wie im 19. Jahrhundert. Man kann das beklagen, man kann sich aber auch ehrlich fragen: Müssen wirklich hundert Prozent der Menschheit Ballett lieben? Klassische Musik hören? Sich für Malerei oder Bildhauerei interessieren? Und nicht zu vergessen: Zum Fußball gehen oder zum Angeln fahren?

Fragt man mich nach meiner Meinung, gebe ich offen zu: Das Lesen ist ein Vergnügen, das nicht für alle gemacht ist. Darüber hinaus ist es nicht nur ein Vergnügen, sondern auch Arbeit.

Die Bibliothek von Ajrak ließ mich vermuten, dass man hier dem Lesen gegenüber die gleiche Einstellung pflegte. Das Gebäude verband eine gewisse pompöse Bauweise (drei Stockwerke, eine Kolonnade vorm Eingang, eine Bronzeskulptur in Form eines riesigen aufgeschlagenen Buches mit Kindern, die sich an die aufgeschlagenen Seiten schmiegten) mit der tristen Zweckmäßigkeit einer Fabrik (Mauern aus langweiligem grauem Stein, große, fest verschlossene Fenster, eine zweiflügelige Tür ohne jeden Schmuck). Neugierig betrachtete ich die Skulptur: Auf den bronzenen Buchseiten war das Alphabet eingemeißelt, bei dem Werk handelte es sich um eine Fibel. Die drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, in natürlicher Größe dargestellt, pressten sich so eng an das Buch, als litten sie an Kurzsichtigkeit oder als hätten sie es gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Das Mädchen stand, das Kinn in die Hand gestützt, die Jungen hockten, den Blick auf die Zeilen gerichtet.

Ich berührte die glänzend polierte Schulter eines der jungen Leser und dachte voller Sehnsucht an die Moskauer Metro zurück. An die Statuen am Platz der Revolution, die so oft angefasst worden waren, dass sie glänzten. Vor allem der Hund aus Bronze, dem ich vor Prüfungen immer über die Nase gefahren war, ein sicherer Weg, um das Semester zu bestehen - selbst wenn es in meinem Fall dann nicht geklappt hatte. Ob mit diesen Statuen auch ein Aberglaube verbunden war? Fasse sie an, und du kannst lesen. Zum Beispiel.

Kaum hatte ich die Bibliothek betreten, bemerkte ich voller Freude ein Schild an der Wand: »Freier Eintritt für alle des Lesens Mächtigen«. Es erschloss sich mir nicht ganz, warum Menschen, die nicht lesen konnten, eine Bibliothek aufsuchen sollten, sicherheitshalber nickte ich aber dem am Eingang sitzenden älteren Pförtner zu, zeigte auf die Tafel und ging weiter.

Die Bibliothek war letzten Endes nicht sehr groß. Das Erdgeschoss beherbergte Verwaltungsräume, aus einem Zimmer klang ein klapperndes Geräusch herüber, das mich an eine Druckerpresse denken ließ. Natürlich hatte ich nie gehört, wie es sich anhört, wenn so ein Gerät in Betrieb ist, aber dem Geräusch haftete etwas Monotones an, als flöge Seite um Seite aus dem gewaltigen Ding. Möglich war das. Vielleicht druckten sie ihre Bücher selbst, bewahrten sie selbst auf ... und lasen sie selbst. Auf Letzteres deuteten zumindest die leeren Gänge.

Ich ging in den ersten Stock hinauf. Na also, der Lesesaal. Stühle, Lesepulte und Lampen an den Pulten, elektrische übrigens. Fünf Leute saßen hier und lasen, einer machte Notizen aus einem Buch. Der Geruch des Studentenlebens schien mich förmlich anzuwehen.

Möglichst lautlos ging ich weiter nach oben. Hier befand sich die eigentliche Bibliothek. Reihen mit hohen Schränken nahmen das ganze Stockwerk ein, direkt an der Treppe standen zwei Tische, beide leer, an einem dritten saß eine schmale, junge Frau. Eine Bibliothekarin, wie sie zu jeder Zeit in jeder Welt anzutreffen ist. In Nowgorod und Tschita, in Schanghai und Bangkok, in Hamburg und Detroit. Ihr Äußeres ließ sich nicht einordnen, in ihr musste sowohl asiatisches als auch europäisches Blut fließen. Solche Frauen bleiben vierzig Jahre lang jung - um sich dann von einem Tag auf den anderen in eine großmütterliche Bibliothekarin zu verwandeln.

»Guten Morgen«, sagte die Frau leise. »Sie sind das erste Mal bei uns?«

»Ja«, antwortete ich ehrlich.

»In welchen Sprachen lesen Sie?«

»In allen«, erwiderte ich nach kurzem Zögern, da ich beschlossen hatte, mich weitgehend an die Wahrheit zu halten.

»Wirklich?« Die Frau lächelte. »Beneidenswert. Könnten Sie mir dann nicht bei diesem Buch behilflich sein?«

Den brüchigen, vergilbten Seiten nach zu schließen musste das Buch mindestens dreihundert Jahre alt sein. Vielleicht sogar fünfhundert. Ich hätte also besser nicht so dick aufgetragen. Prinzipiell verfügte ich zwar noch über Funktionalsfähigkeiten, im Moment spürte ich sie aber nicht. Und beim Eintritt in diese Welt dürfte ich wohl kaum ihre toten Sprachen gelernt haben ...

Mit einem verlegenen Lächeln trat ich an den Tisch heran. Als ich mich über die Schulter der Frau beugte, nahm ich den zarten, blumigen Duft ihrer Haare wahr. Ich starrte auf die Seite.

»Und was verstehen Sie nicht?«, fragte ich mit gesenkter Stimme.

»Das hier.« Die Frau musterte mich neugierig. »Diese Stelle.«

»Nelken können in geringem Maße beigefügt werden«, las ich vor.

»Sie kennen diese Sprache?«, staunte die Frau. »Sie kennen sie wirklich?«

Das wäre ja noch schöner, dass ich kein Russisch könnte!

»Ich hab es hier und da gehört ...«, erklärte ich.

»Wie wunderbar«, brachte die Frau leise heraus. »Ich habe es ... mit Wörterbüchern gelernt. Aber ich habe immer geglaubt, niemand sonst würde es ... Dann können Sie mir vielleicht auch erklären, warum es heißt, man solle Näglein hinzugeben. Liegt das daran, dass die Lebensmittel zu wenig Eisen enthalten? Ich meine, das ist doch gefährlich. Nachher bemerkt jemand die Nägel nicht und schluckt sie runter ...«

»Es geht nicht um Näglein, kleine Nägel, sondern um Nelken, das schreibt sich nur sehr ähnlich, ist aber ein Gewürz ... kleine, getrocknete Blütenknospen ... Geben Sie mir mal einen Stift.«

Auf einem Blatt festen grauen Papiers malte ich so gut ich konnte eine Gewürznelke. Ehrlich gesagt, hatte ich selbst sie beim Kochen noch nie verwendet, aber als ich mal zusammen mit Freunden Glühwein gemacht habe ...

»Nein«, meinte die Frau enttäuscht. »Ein solches Gewürz kenne ich nicht. Vermutlich wächst es bei uns nicht mehr.«

»Wahrscheinlich nicht«, pflichtete ich ihr bei.

Wie merkwürdig, wie absurd und komisch, dass aus der gesamten großen russischen Literatur, von allen in Russland herausgegebenen Büchern, nicht Tolstoi oder Puschkin, nicht die gesammelten Werke Lenins oder die Physiklehrbücher, sondern ausgerechnet ein Kochbuch erhalten geblieben ist! Ein absolut gewöhnliches Kochbuch ... Doch wenn man sich die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen ließ, erstaunte es im Grunde nicht. Gute Kochbücher werden auf glattem, dickem und festem Papier gedruckt, damit sie sich im Dunst nicht wölben, nicht zu sehr verschmutzen, wenn man sie mit Fettfingern anfasst, und ihre Küchenexistenz inmitten von Gewürzdosen und Handtüchern unbeschadet überstehen. Wo steht denn das Kochbuch, nach dem du zu Hause am häufigsten kochst? Im Bücherschrank? Eben!

Und mit einem Mal begriff ich in aller Deutlichkeit, was ich schon geahnt hatte.

Ich war nicht einfach in einer anderen Welt.

Das hier war die Zukunft.

Unsere Zukunft.

Radioaktive Wüsten, brennendes Land, ein wolkenverhangener Himmel, Ruinen von Städten, Reste der Zivilisation, auf einzelnen Inseln zusammengepfercht - das war meine Erde.

So sah sie also aus, die Welt der Funktionale.

»Wir haben ein ganzes Fach mit Büchern in dieser Sprache«, teilte die Frau mir mit. »Und auch noch in anderen toten Sprachen ... oben im Spezialarchiv.«