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»Den Berg hoch. Zu Herrn Dietrich«, antwortete ich.

»Aha«, brummte der Kutscher. »Steig ein, ich nehm dich mit.«

Ich schwankte nur ganz kurz.

Und mit einem Mal wusste ich, dass die Holzräder mit Reifen aus synthetischem Kautschuk bezogen waren, die in der Werkstatt von Großväterchen Ho im Südteil der Stadt hergestellt wurden. Dass der Fahrer André hieß, die Übereinstimmung mit dem französischen Namen jedoch zufällig war, lautete die volle Form seines Namens doch Andreas. Dass er seit langem verheiratet war, aber keine eigenen Kinder hatte, was ihn betrübte; eine adoptierte Tochter zog er wie eine leibliche auf. Dass wir bis zur Villa noch zwei Stunden und sieben Minuten bräuchten. Dass es nicht regnen, die Sonne jedoch auch nicht durch die Wolken brechen würde. Dass André insgeheim das in der Stadt getrunkene saure Bier verfluchte, das in seinem Bauch rumorte und ihn zwingen würde, unterwegs zweimal anzuhalten und sich in die Büsche zu schlagen. Und dass er sich wirklich freute, mich mitzunehmen, denn so gern er morgens allein fuhr, um seine Mandarinen und Trauben abzuliefern, so sehr genoss er es, auf dem Rückweg jemanden dabei zu haben, da er nur zu gern klatschte und tratschte.

»Vielen Dank«, sagte ich, als ich in die Britschka stieg. »Sie haben Mandarinen ausgeliefert?«

»Jo«, antwortete André. »Hab ein hübsches Geschäft gemacht!«

Er klopfte gegen die pralle Jackentasche, ohne die geringste Angst, vor einem völlig Unbekannten auf einer verlassenen Straße mit seinem Geld anzugeben.

»Freut mich«, meinte ich. Das Gefühl der Allwissenheit verflüchtigte sich bereits. Ich hatte meine Wahl getroffen. Ob sie richtig war oder nicht, stand auf einem anderen Blatt.

»Rauchst du?«

»Ja, danke«, sagte ich erfreut. In meiner Schachtel war nur noch eine letzte Zigarette übriggeblieben, außerdem hätte ich mich nie getraut, vor einem Mann aus dieser Welt eine Dunhill zu rauchen.

Der Kutscher paffte allerdings auch keinen billigen Tabak. Aus der Tasche seines Gehrocks hatte er eine Pappschachtel geholt, aus dieser zwei Zigaretten.

»Oh!«, staunte ich.

»Jo, jo, ein schlechtes Kraut kommt uns nicht zwischen die Lippen«, erwiderte der Kutscher stolz.

Eine Zeit lang fuhren wir schweigend dahin. Das kleine, friedliche Pferd zog die Britschka brav die Straße entlang. Um uns herum erstreckten sich Felder, auf denen jedoch niemand zu sehen war, entweder weil die Ernte längst eingefahren oder es bis dahin noch weit war. Wir rauchten. Der Tabak war stark, mir wurde sogar ein wenig schwindlig.

Als der Wagen an einem extrem knorrigen Baum vorbeizuckelte, der förmlich zu einem Päuschen einlud, spuckte der Kutscher aus und machte eine Geste, als werfe er etwas über die linke Schulter. Um sich gegen den bösen Blick zu schützen?

»Ein verfluchter Ort?«, fragte ich.

»Und wie«, antwortete der Kutscher. »Hier wurde ein Mann ermordet, hast du das nicht gehört?«

»Nein.«

»Zwei Freunde hatten nach der Arbeit noch ein Weinchen zusammen getrunken. Und dann ... vielleicht weil der Wein so stark war oder weil die Sonne ihnen das Hirn verbrannt hatte ... jedenfalls, ein Wort gibt das nächste, sie rasten aus, der eine poliert dem andern die Fresse, der schnappt sich in seinem Suff einen Spaten und ...«

»Verstehe«, sagte ich. »Ist das lange her?«

»Also ...« André dachte nach. »Ich war damals noch’n Junge ... Fünfzig Jährchen wird’s her sein. Seitdem bestellt niemand mehr das Feld, und der Baum ... den hätten wir fällen können, aber wir haben ihn stehen lassen, damit er allen eine Lehre ist ...«

Ich ließ mir das Gehörte durch den Kopf gehen.

Vor fünfzig Jahren? Ein Mann wurde in einer Schlägerei von einem anderen totgeschlagen, beide waren sie betrunken - und fünfzig Jahre später meiden die Menschen diesen Ort immer noch? Da müsste man in unserer Welt ja auf jede Straße spucken! Und am Ende würde deine Spucke doch nicht reichen ...

Was hatte das zu bedeuten? War das eine künstliche, ihnen von den Funktionalen eingepflanzte Nicht-Aggressivität? Oder eine Folge der charakterlichen Entwicklung der Menschheit?

Nein, wahrscheinlich war alles viel einfacher.

Wie wirkt es sich auf die Psyche von Menschen aus, wenn 99,9 % der Bevölkerung eines Planeten sterben? Wenn nur ein paar Hunderttausend - oder selbst eine Million - überleben, allerdings alle auf einer einzigen großen Insel? Schriftsteller und Regisseure legen ja mit Begeisterung entsprechende postapokalyptische Horrorfilme und Romane vor, in denen es von Banden blutdürstiger Blödmänner wimmelt (vorzusgsweise bekiffte, abgerissene Typen auf verrosteten Motorrädern, die auf der Suche nach ihren Opfern durch die Wüste kurven), von Soldaten, die über den Ereignissen den Verstand verloren haben (ein alter Panzer ohne Geschosse rattert durch die Gegend, kommandiert von einem durchgeknallten Major, Soldaten, die in blindem Gehorsam jeden Befehl ausführen) und religiösen Fanatikern (ein sexuell höchst umtriebiger Sektenführer und Blutrituale, die Kannibalismus nahekommen, sind hier obligatorisch). Aber genug davon. Das ist pure Fiktion. Wie sieht die Wirklichkeit aus? Musste nicht im Unterbewusstsein der Menschen ein unerbittlicher, unverrückbarer Vorbehalt gegen jedes Töten entstanden sein?

Hier schien das der Fall gewesen zu sein.

Die damals bestehenden Religionen dürfte es besonders hart getroffen haben. Das, was geschehen war, fügte sich in kein Weltbild. Die Gläubigen verloren ihren Glauben, Priester überließen ihre Kirchen der Verwilderung. Allenfalls die Buddhisten könnten sich mit der Katastrophe abgefunden haben.

Demzufolge hatte der Kapitän Van Tao mich wahrscheinlich gar nicht vergiften wollen, ein solcher Schritt wäre in dieser Welt selbst dem schamlosen Schatzgräber in den Ruinen kaum zuzutrauen. Vermutlich enthielten die leckeren Pelmeni nur ein harmloses Schlafmittel. Und ich, dieser gefährliche Passagier, sollte nicht gefesselt und ausgeraubt, sondern nur für die Nacht ausgeschaltet werden.

André hielt den Karren an und warf mir die Zügel zu: »Halt mal ... mir geht es im Bauche um.«

Er sprang runter und verschwand hinter den nächsten Büschen. Das Pferd wackelte mit den Ohren, schlug mit dem Schwanz und brachte durch sein gesamtes Auftreten zum Ausdruck: Von mir aus können wir hier bis zum Abend stehenbleiben.

Der Kutscher kam zurück. »Kein einziges Bierchen werde ich mehr im Betrunkenen Delphin trinken!«, knurrte er. »Sollen die das Zeug doch den Delphinen geben! Die haben’s eh leichter, die können überall, wenn sie mal müssen ...«

»Sie müssen Eichenrinde kochen und trinken, das hilft«, meinte ich voller Anteilnahme.

»Weiß ich. Sobald ich zu Hause bin, bitte ich meine Tochter, mir welche abzukochen ... die hat Köpfchen, meine Tochter. Und du, bist du Arzt, oder was?«

»Mein Vater ist Arzt.«

»Aha! Also wirst du auch Arzt!«, verkündete André überzeugt. »Sag mal, was sollen Frauen trinken, wenn sie ihre Tage haben?«

»Wofür?«, fragte ich verständnislos.

»Damit sie nicht alle um sich rum anblaffen.«

»Also ...« Ich zuckte mit den Achseln. »Baldrian ... Weißdorn.«

»Wusst ich’s doch, du bist’n Arzt«, meinte André erfreut. »Das hilft aber nicht. Sie ist trotzdem völlig neben der Spur. Weißt du, meine Frau ist noch jung ... temperamentvoll ...« Er dachte kurz nach. »Und bei Herzstechen?«

»Ist es ein Stechen oder ein Engegefühl?«, hakte ich nach.

»Stechen.«

»Baldrian. Und Weißdorn.«

»Wenn du kein Arzt bist ...«

Ich hatte den Eindruck, meine Tipps seien für den Mann nicht neu. Eher schien er die Gelegenheit zu nutzen, die Ratschläge seines eigenen Arztes zu überprüfen, die ebenso einfach waren und daher wenig vertrauenerweckend wirkten.