»Zu Dietrich willst du in Arzt-Angelegenheiten?«
Damit war mir klar, dass es keinen Sinn hatte, mich länger gegen den mir aufgedrückten Beruf zu sträuben. Was auch immer in einer Welt geschehen sein mochte, die Menschen interessieren sich dafür, wie eigene und fremde Leiden zu kurieren sind. Wobei sie für die eigenen Leiden Ärzte konsultieren, die Beschwerden anderer aber gern selbst heilen.
»Nicht ganz. Ich habe gehört, er sei ein kluger Mann.«
»Stimmt«, bestätige André. »Ein guter und ein kluger Mann. Seine ganze Familie ist so. Sein Großvater, Friede seiner Asche, war so, und auch sein Vater war ein anständiger Mann. Seine Schwester ist ja eher schlicht gestrickt, ein flatterhaftes Ding, mit nichts im Kopf, aber alle Hoffnung ist bei ihr noch nicht verloren. Und auf Dietrich lass ich nichts kommen. Allerdings müsste er mal heiraten und Kinder in die Welt setzen, schließlich sind wir alle sterblich und eine so gute Familie muss doch fortgeführt werden ...«
Das Thema lag ihm eindeutig am Herzen, und er hätte sich gern noch weiter darüber ausgelassen. Doch ich packte die Gelegenheit beim Schopfe und fragte: »Ist er denn noch Junggeselle?«
»Hmm. Er ist noch jung, so alt wie du. Aber klug!«
Die letzte Bemerkung klang beleidigend, obwohl André es bestimmt nicht so gemeint hatte.
»Verstehe.« Das brachte mich zum Grübeln. Tief im Innern war ich davon überzeugt gewesen, der Mäzen und Landbesitzer Dietrich sei ein Mann in fortgeschrittenen Jahren, der gut und gern mein Vater - wenn nicht gar Großvater - hätte sein können. Jetzt erfuhr ich: Er war nicht älter als ich.
War das gut oder schlecht?
Wahrscheinlich gut. Wenn ich mich dazu entschließen sollte, meine Karten offen auf den Tisch zu legen, dann wäre es für mich umso leichter, je jünger - und damit aufgeschlossener - Dietrich war.
»Sagen Sie mal, André, haben Sie schon mal was davon gehört, dass in den Bergen oberhalb des Anwesens von Herrn Dietrich noch ein weiteres Gebäude steht?«, fragte ich. »Ein hohes Haus? Eine Art Turm?«
André ließ sich mit der Antwort Zeit. Zunächst holte er seine Zigaretten raus und hielt auch mir die Schachtel wieder hin. Ich steckte mir eine an, wobei ich bereits ahnte, dass er meine Frage bejahen würde.
»Jo, hab ich. Wie auch nicht? Ich kenne drei Leute, die sagen, sie hätten den Turm gesehen. Sie hätten ihn gesehen und würden ihn auch jetzt sehen, wenn sie zum Berg hochblicken. Einer ist sogar in den Westen gezogen, damit ihn das Ding nicht kirre macht.«
Aus den Augenwinkeln spähte ich zum Berg hinüber. Der in sich verdrehte Fächer schimmerte ungeniert im sich durch die Wolken brechenden Sonnenlicht.
»Aber Sie selbst haben ihn noch nie gesehen?«
»Nö. Hab’s mal versucht, aber das war nichts. Es heißt, er ist sehr schön ...« Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Aber den sehen nicht alle.«
»Und wenn man in die Berge geht, um ihn zu sehen?«
»Da darfst du nicht hin«, antwortete André in scharfem Ton. »Das weiß jeder. Wer in die Berge geht, kommt nicht zurück!«
»Warum nicht? Lauern da oben Gefahren?«
»Wird wohl so sein ...« André wollte anscheinend nicht länger über das Thema sprechen. »Tiere und Abgründe womöglich. Ist nun mal gefährlich, oben in den Bergen.«
»Gefährlich, ja. Trotzdem müsste mal jemand zurückgekommen sein. Was könnten das für Tiere sein, vor denen sich niemand retten kann?«
Der Kutscher zuckte die Schultern. »Vielleicht ...«, setzte er an. »... vielleicht hat sie der Eisenmann ermordet.«
»Der Eisenmann?«
»Du bist nicht von hier, oder?«
»Stimmt.«
André nickte. »Aus dem Osten?«
»Hmm.«
»Heißt wohl nicht umsonst, dass ihr da lebt wie auf einer anderen Insel. Also, durch die Berge, da wandert jemand. Jemand, der doppelt so groß ist wie’n normaler Mensch. Aus Eisen. Der läuft da rum und reißt Bäume aus. Bloß gut, dass er nie ins Tal runterkommt.«
»Wandert der schon lange in den Bergen rum?«
»Schon immer.« André warf mir die Zügel zu. »Da haben wir’s! Wenn man von solchem Kram redet, geht’s gleich wieder im Bauch los ...«
Er schlug sich in die Büsche. Noch im Gehen knüpfte er den Gürtel auf. Ich betrachtete unterdessen wie vor den Kopf geschlagen den Berg.
Ein Eisenmann? Ein Roboter?
Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, hier so etwas anzutreffen! Funktionale benutzten keine Technik. Und schon gar keine SF-Technik. Lebende Häuser und Portale, ja, sogar Kraftfelder - daran glaubte ich. Aber an einen Roboter, einen mechanischen Wachtposten - auf gar keinen Fall. Das waren Märchen, Legenden, Horrorgeschichten ...
»Hab ihn selbst mal gesehen.« André tauchte wieder aus den Büschen auf, entschieden munterer. »Da war ich noch klein, also, nicht mehr ganz klein, aber eben noch wild. Bin mit Freunden in die Berge gekraxelt, um Beeren zu suchen. Wir ... wir sind höher rauf, als wir durften. Ich habe’nen Himbeerstrauch entdeckt, den ich geplündert habe, wobei mehr in meinen Mund gewandert ist als in den Korb. Plötzlich scheppert was, und jemand kommt durch den Wald. Ich bleib wie angewurzelt stehen. Da blitzt zwischen den Bäumen was auf ... Sah aus wie ein Mensch, nur größer. Doppelt so groß.« Er dachte nach. »Nein, nicht doppelt so groß, anderthalb mal so groß. Schließlich war ich noch’n Steppke und außerdem noch nie besonders groß. Ein Mann aus Eisen, an dem alles funkelt. Und die Augen waren aus Glas und wie ...« Er fuchtelte hilflos mit den Händen. »... wie bei’ner Libelle. Glaubst du mir das?«
»Ja«, antwortete ich leise. »Wenn die Augen wie bei einer Libelle waren, dann glaube ich dir. Ein Facettenauge, das ist ziemlich klug ...«
»Du bist der Doktor von uns, du musst das besser wissen«, meinte André. »Danke, dass du mich nicht auslachst. Die meisten haben mir nicht geglaubt. Das heißt, das mit dem Eisenmann, das glauben sie schon, aber nicht, dass ich ihn gesehen habe. Ich hab was mit dem Gürtel gekriegt, und es hieß, ich darf da nicht mehr hingehen. Ich kenne sonst niemanden, der ihn gesehen hat. Diejenigen, die so blöd waren, den Berg hochzukraxeln, haben ihn garantiert vor ihrem Tod gesehen. Aber mich hat er nicht angerührt, wahrscheinlich, weil ich noch ein Junge war. Jedenfalls habe ich mir das später so zurechtgelegt. Warum hätte er’nem Jungen was antun sollen? Den Turm, ja, den sehen schon mehr. Ich habe mal Herrn Dietrich gesagt, dass das alles Mist ist. Da hat er gelacht, aber nicht über mich. Und er hat mir gesagt, dass es den Turm wirklich gibt. Er sieht ihn auch, aber er kann ihn niemandem zeigen.«
»Das stimmt«, erwiderte ich einsilbig.
Anscheinend hatte ich die richtige Entscheidung getroffen. Ob Dietrich mich nun anhörte oder nicht, ob er mir glaubte oder mich vor die Tür setzte - aber er war einer der wenigen in dieser Welt, die mir glauben könnten.
Glauben und helfen.
Siebzehn
Wir neigen stets dazu, unsere Altersgenossen zu unterschätzen. Sicher, mit ihnen fühlen wir uns am wohlsten, wir hören die gleiche Musik, lesen die gleichen Bücher, befinden uns - zumindest anfangs - auf der gleichen Stufe der Karriereleiter, weshalb in Verbindungen wie »junger Ingenieur«, »junger Arzt« oder »junger Systemadministrator« stets das Gewicht der Aussage auf dem Adjektiv liegt. Große Taten erwarten wir von ihnen nicht. Wir finden uns ohne weiteres mit der Weisheit der Alten ab, mit der Erfahrung reifer Menschen und selbst mit der Genialität eines Kindes. Aber unser Altersgenosse? Wie kann der etwas Bedeutendes vollbringen? Wie kann er mehr Anerkennung genießen und mehr Liebe bekommen als wir? Das ist doch unser Kolka, Petka oder auch Serjoschka. Im Kindergarten haben wir uns mit ihm gekloppt, in der Schule Unfug gemacht und als Studenten die Nacht durchgefeiert. Ich kenne ihn in- und auswendig und weiß genau, was er für ein Schlawiner ist. Er ist ein anständiger Kerl, der aber bestimmt keine Sterne vom Himmel holt ... Was? Er hat sie doch geholt? Einfach so?