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Seine wissenschaftlichen Artikel werden in der ganzen Welt veröffentlicht? Er soll in Harvard lesen? Das glaub ich nicht! Unsere Lehrer haben ihm immer gesagt, er solle sich ein Beispiel an mir nehmen!

Genau darum dürfte es gehen. Wenn du einen Altersgenossen triffst, der von allen respektiert wird, dann wächst in dir ... nein, nicht Neid. Eher etwas wie Unglauben und Verwirrung. Unwillkürlich fragst du dich: Könnte ich da an seiner Stelle stehen?

Das Anwesen des Herrn Dietrich, genauer des Geschlechts der Dietrichs, machte den Eindruck eines echten Familiensitzes, ein alter, aber solider und bis in den hintersten Winkel eingelebter Bau, der so stark mit seiner Umwelt verschmolz, dass er natürlicher als die Berge, die Wälder und Weinreben wirkte. Vielleicht war dieser Effekt dem Architekten zu verdanken, vielleicht aber auch der Zeit, die ja bekanntlich der beste aller Architekten ist. Selbst ein tristes Mietshaus kann sie in eine Perle im Stadtbild verwandeln. Seinerzeit waren die Pariser gegen den Bau des Eiffelturms auf die Straße gegangen, heutzutage wäre die Stadt ohne ihn nicht denkbar ...

Ein Hausangestellter teilte mir mit, Dietrich würde gleich von seinem Ausritt zurückkommen, und bot mir an, im Haus, gern aber auch in der Laube vor dem Anwesen auf ihn zu warten. Bescheiden wählte ich die Laube, was den Diener jedoch nicht daran hinderte, mir einen grünen Tee und schlanke Zigarren zu bringen. Diese Gastfreundschaft flößte mir Hoffnung ein. Ich saß in der grünumrankten Laube und ergötzte mich an der idyllischen Landschaft um mich herum, selbst wenn mein Blick immer wieder zu dem Turm huschte. Er war jetzt ganz nah. Da ich nun alle Details erkennen konnte, fand ich meinen ersten Vergleich - mit einem in sich verdrehten Fächer - bestätigt. Man muss sich das so vorstellen, dass aus einem gemeinsamen Fundament aus Glas und Stahl zwei Dutzend schmaler Wolkenkratzer wuchsen, die leicht aufgefächert waren. Erstaunlicherweise hielten sie sich in dieser Position. Dann wurden diese Wolkenkratzer minimal gegeneinander verdreht. Diesen halb aufgeklappten Fächer musste man dann nur noch spiralförmig an der Mittelachse hochziehen.

Ist das vorstellbar?

Jetzt noch die Maße. Die »Fächerscheibe« dürfte dreihundert Meter hoch, etwa zwanzig breit und fünf Meter - vielleicht etwas mehr - dick sein.

Diese futuristische, in den Bergen völlig deplatzierte Konstruktion dräute über dem alten Steinhaus. Vermutlich fiel ihr Schatten hin und wieder auf das Haus und den umliegenden Hof.

Aber das bemerkte niemand.

Ich hatte die Zigarre, die sich als weit schmackhafter erwies als die Zigaretten Andrés, gerade bis zur Hälfte geraucht, als auf dem Weg, der sich durch die Weinstöcke schlängelte, ein Reiter auftauchte. Auf irgendeine Weise hatte der junge Landbesitzer bereits von meiner Ankunft erfahren, denn er überreichte einem Diener kurz vor der Laube die Zügel und kam direkt auf mich zu. Mit seinem weißen Reitanzug und den hohen weißen Stiefeln aus weichem Leder sah er genauso aus, wie in meiner Vorstellung ein reicher und geschätzter Landbesitzer aussehen muss, der ausreitet, um seine Besitzungen in Augenschein zu nehmen.

Ich erhob mich zur Begrüßung.

Dietrich war mein Altersgenosse und ähnelte mir sogar ein wenig. Nur dass er körperlich kräftiger war, nichts von der ungesunden Schlaffheit des Städters an sich hatte. (Aber wie viel überflüssiges Fett würdest du wohl noch mit dir rumschleppen, wie bleich und voll wäre dein Gesicht, wenn du dein Leben lang an der frischen Luft zu Fuß gehen oder reiten würdest?) Zu allem Überfluss sah Dietrich ungeachtet der diffusen Ähnlichkeit zwischen uns beiden eindeutig besser aus als ich. Das gestand ich mir ehrlich und objektiv ein. Seine Schönheit lag zudem nicht in einer weichen Jünglingsanmut, wie sie von nicht mehr ganz so jungen Frauen geschätzt wird (»ach, mein Hübscher!«) und nicht in der Brutalität eines städtischen Machos, wie sehr junge Frauen sie mögen (»ein richtiger Kerl!«), sondern in der Gesamtharmonie von Gesicht und Figur. Kurz und gut, die Frauen mussten sich reihenweise in ihn verlieben, die Männer ihn achten.

In mir meldete sich der bittere Gedanke, vor mir stünde eine Art besserer Kopie meiner selbst.

»Guten Tag!« Er streckte mir die Hand hin und lächelte offen und freundlich. »Warten Sie schon lange auf mich?«

»Nein, nicht sehr lange.« Ich ergriff seine Hand. Natürlich, auch sein Händedruck war angenehm ... »Vielen Dank für die Bewirtung mit Tee und Zigarren. Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Dietrich.«

»Al«, sagte Dietrich. »Nennen Sie mich einfach Al. Wir sind ja anscheinend Altersgenossen.«

»Stimmt«, antwortete ich. »Dann bin ich Kirill. Oder einfach Kir.«

»Kirill.« Er schien sich den Namen auf der Zunge zergehen zu lassen, als erkunde er seinen Geschmack. »Kirill. Ein schöner und seltener Name. Wollen wir ins Haus gehen oder ...«

Ich sah zum Turm rüber. »Könnten wir uns vielleicht hier unterhalten?«, fragte ich.

»Verstehe«, erwiderte Dietrich mit gedämpfter Stimme. »Sie auch ... Gut, bleiben wir hier.«

Er nahm mir gegenüber Platz und gab dem Diener, der mir den Tee gebracht hatte und bis jetzt in einiger Entfernung abwartete, ein Zeichen, woraufhin dieser im Haus verschwand.

»Ich lasse mir auch einen Tee bringen«, erklärte Dietrich. »Sie sehen ihn?«

»Den Turm? Ja.«

»Wie sieht er denn aus?«

Ich lächelte. O ja, wir ähnelten uns wirklich.

»Er ist hoch, etwa zweihundert Meter. Und er sieht wie ein Fächer aus Glas und Stahl aus, der zu einer Schraube verdreht ist.«

»So beschreibe ich ihn auch immer«, sagte Dietrich. »Das heißt, ich habe ihn so beschrieben, bis ich einsah, dass das keinen Sinn hat. Woher sind Sie, Kirill?«

Musste ich jetzt eine Wahl treffen oder nicht?

Ich lauschte in mich hinein.

Nein, da rührte sich nichts ... Keinerlei Fähigkeiten. Also blieb mir kaum eine Wahl.

Ich sah Dietrich fest in die Augen. »Aus einer anderen Welt.«

»Oh«, brachte Dietrich hervor. »Oh!«

Er erhob sich sogar und fing an, nervös durch die Laube zu tigern. Der Diener brachte auf einem Tablett eine weitere Tasse und eine Teekanne und wurde von Dietrich mit einem Nicken wieder entlassen.

»Das scheint Sie nicht zu wundern«, bemerkte ich.

»Das? Nicht wundern? Das verschlägt mir die Sprache, Kirill! Sie ... Gut, ich habe schon selbst mal daran gedacht, aber ... und nun das ...«

Mit einem Mal begriff ich, dass dieser attraktive, kluge, reiche und absolut selbstgenügsame Mann tatsächlich bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert war. Das machte es mir leichter. »Ich vermute, wenn Sie den Turm sehen, sind Sie bestimmt auch schon einmal Funktionalen begegnet.«

»Wem?«

»Den Menschen-über-den-Menschen.«

»Die haben nie behauptet, aus einer anderen Welt zu sein. Sie reden ohnehin nicht von sich. Daher habe ich immer angenommen, auf irgendeinem Kontinent habe sich eine Enklave mit einer höheren Zivilisation gehalten ...«

»Sie wissen also sogar, dass es mehrere Kontinente gibt«, hielt ich erfreut fest. »Vielleicht kennen Sie dann auch das Wort Geschichte?«

»Ja.« Stöhnend setzte er sich wieder hin und goss sich Tee ein. »Allerdings ist mir nur das Wort bekannt. Wir haben hier keine Geschichte. Geschichte ist ein Tabu ... sagt Ihnen dieses Wort etwas?«

»Ja.«

»Umso besser. Also, bei uns gehört es sich nicht, darüber zu diskutieren, was früher war.«

»Die arme Frau«, murmelte ich. »Ich hab ja nicht gewusst, dass ...«

»Welche Frau?«

»In der Bibliothek. Ich habe sie nach der Geschichte Ihrer Welt gefragt. Daraufhin hat sie mich zu Ihnen geschickt.«

»Ah ... ich weiß schon, wen Sie meinen.« Ein Strahlen malte sich in seinem Gesicht. »Sie hatten Glück, Sie haben die richtige Person befragt. Diana ist genauso verschroben wie ich. Auch sie möchte gern wissen, was war, bevor die Welt starb.«