Dietrich fuhr zusammen und rückte von mir weg.
»Vor anderen bin ich auf der Flucht, denn die wollen mich umbringen. Insofern bin ich ein faszinierender, aber gefährlicher Gast.«
»Du ...« Er zögerte. »Kannst du was? Etwas, das ein Mensch nicht kann?«
»Ja. Manchmal. Ab und an kann ich ein Tor in eine andere Welt öffnen. Mein Freund, er ist Kurator in meiner Welt, glaubt, es hat eine gewisse Störung gegeben. Und zwar, als wir beide einmal aneinandergeraten sind. In diesem Kampf waren meine Fähigkeiten noch nicht völlig verschwunden. Ich konnte ihm Widerstand leisten. Und jetzt verfügen wir beide nicht mehr über unsere vollen Kräfte. Einer von uns wird Kurator auf der Erde. Der andere stirbt wahrscheinlich. Das ist jedenfalls eine Variante.«
»Und die andere?«
»Wenn wir es schaffen, unsere Welt dem Einfluss der Funktionale von Arkan zu entziehen, wenn wir sie überzeugen oder notfalls zwingen könnten, uns in Ruhe zu lassen, dann könnten wir vielleicht beide am Leben bleiben. Vermutlich könnten wir unsere Fähigkeiten dann sogar in unserem eigenen Interesse einsetzen.«
»Wie aufschlussreich ...«, brachte Dietrich nachdenklich hervor. »Oh, entschuldige, ich habe das ... sehr abstrakt durchdacht.«
»Macht nichts.«
Wir hüllten uns beide in Schweigen.
»Und was willst du jetzt tun? Hast du einen Plan - da du schon mal zu uns gekommen bist?«
»Der Plan ist entstanden, als ich dieses dumme Ding auf dem Berg gesehen habe ...«
»Was für ein dummes Ding? Ach so, verstehe ...«
»Ich will da hin.«
»Und dann?«
»Keine Ahnung.« Ich breitete die Arme aus. »Den nächsten Schritt habe ich mir noch nicht überlegt. Ich bin mir noch nicht mal darüber im Klaren, was das genau für ein Ding ist. Vielleicht ist es genau die eine Vorrichtung im gesamten Universum, die es überhaupt erst gestattet, dass Funktionale von einer Welt in eine andere reisen und ihre Wunder vollbringen. Und wenn sie zerstört werden würde ...«
»Dann würdest du bei uns festsitzen.«
Daran hatte ich nicht gedacht. Der ernste Ton, in dem Dietrich sprach, beschwor in mir prompt ein Bild herauf, wie ich für immer auf dieser Insel gefangen blieb. Oje ...
Komisch. Da war ich bereit zu sterben und mich Hals über Kopf in den Kampf zu stürzen - aber nicht hierzubleiben?
»Dann werde ich dich um Protektion bitten ... um einen Arbeitsplatz in der hiesigen Bibliothek. Dort werde ich mich mit Geschichte befassen.«
»Eine gute Idee«, meinte Dietrich. »Nicht viel Arbeit ...«
Wir mussten beide lächeln.
»Vielleicht hat es mit dem Ding ja auch gar nichts auf sich«, fuhr ich fort. »Vielleicht ist es nur ein Denkmal. Oder ein Museum. Oder ein Sanatorium. Vielleicht hat es nicht mal einen Eingang. Aber ich möchte es versuchen. Und ich brauche Hilfe.«
»Von mir abgesehen, wird dir niemand helfen«, warnte mich Dietrich gleich.
»Gar niemand? Und eure Regierung?«
»Die Kaiserin wird in unserer Gesellschaft sehr verehrt«, wog Dietrich die Worte vorsichtig ab. »Aber ihre reale Macht ist nicht sehr groß. Wir ... wie soll ich das ausdrücken ... wir brauchen nicht unbedingt eine Regierung. Es gibt Polizisten, aber nicht wie früher eine Armee. Unser Verhältnis zu den Menschen-über-den-Menschen ist im Grunde nicht schlecht. Es ist von Achtung geprägt. Von Verehrung, einer leichten Scheu und einem ehrfürchtigen Erschaudern. Sie kommen nicht oft zu uns, kränken niemanden, kaufen den Schatzsuchern ihre Artefakte vom Festland ab, bringen uns aber auch bei, wie man damit umgeht. Sie behandeln uns, wenn wir krank sind. Außerdem gab es mal einen Fall ... also, kein Krieg, wir führen hier keine Kriege. Aber es gab mal einen Streit zwischen zwei Dörfern. Wegen Weideland. Davon gibt es nicht so viel, weil das Kerngebiet der Insel aus unbewohnbarem Gebirge besteht ...«
»Ich weiß, ich bin da gewesen«, sagte ich düster.
»Die Menschen-über-den-Menschen haben den Streit beigelegt. Natürlich nicht mit Gewalt. Sie ... sie haben das Landstück einfach einem dritten Dorf zugesprochen. Damit waren alle zufrieden.«
»Also regieren sie doch.«
»Eher passen sie auf uns auf. Und dafür werden sie verehrt. Sie sind eine Kraft, die bei Bedarf für Ordnung sorgt. Alle wissen das und sind zufrieden.«
»Und du?«
»Mir gefällt dieses Ding über meinem Kopf nicht«, antwortete Dietrich verdrossen. »Es gefällt mir nicht, basta ... Hast du Hunger?«
»Wenn du so fragst ...«
»Dann lass uns reingehen! Ich werde dafür sorgen, dass dir ein Zimmer zurechtgemacht wird und wir was zu essen bekommen.«
»Ich weiß nicht, ich habe ein Zimmer in einem Hotel gemietet ...«, setzte ich an. Aber Dietrich lächelte so beredt, dass ich mich nicht länger sträubte. »Vielen Dank für die Einladung. Aber vergiss nicht, dass ich ein gefährlicher Gast bin. Die guten Menschen-über-den-Menschen könnten meinetwegen plötzlich auf der Bildfläche erscheinen.«
»Das sollen sie mal wagen«, brachte Dietrich heraus, wenn auch nicht sehr überzeugt. »Wirklich, das sollen sie mal wagen. Das gäbe einen Skandal ...«
»Aber sie haben keine Angst vor Skandalen.«
»Gehen wir.« Dietrich klopfte mir auf die Schulter. »Lassen wir die Dinge auf uns zukommen ...« Als wir kurz vor der Tür angelangt waren, fügte er noch leise hinzu: »Sag mal ... hast du wirklich lebende Menschen umgebracht?«
»Ja«, antwortete ich. »Aber das hat sie sehr schnell in tote Menschen verwandelt.«
Man hatte mir nicht nur ein Zimmer zurechtgemacht. Ein behäbiger, schon angejahrter Mann, fraglos einer der ältesten Diener im Haus, begleitete mich in den ersten Stock hinauf, in das Gästezimmer, sah sich höchst aufmerksam um, nickte zufrieden und zog sich zurück. Entzückt darüber, dass zu dem Gästezimmer auch ein Bad gehörte, wusch ich mich voller Genuss, zum ersten Mal, seit ich Feste verlassen hatte. Hier gab es kein elektrisches Licht, nur Kerzen, dafür aber warmes Wasser und eine recht ordentliche Dusche in einer riesigen Marmorwanne, Seife und Shampoo. Als ich mich gerade mit einem weichen Badehandtuch frottierte, klopfte es sanft an die Tür, bevor diese einen Spalt geöffnet wurde und jemand ein paar Kleidungsstücke auf dem Steinfußboden ablegte.
Diese stammten anscheinend aus Dietrichs Garderobe, aber wir hatten wirklich beinahe die gleiche Figur.
Auch Dietrichs Geschmack entsprach meinem. Jeans oder etwas, das diesen Hosen so nahekam, dass es sinnlos wäre, nach einem anderen Wort zu suchen, da sie ebenfalls aus dunkelblauem festem Stoff waren und Nieten an den Taschen hatten. Ein einfaches, rot-blau kariertes Hemd, das wie üblich geknöpft wurde, nicht in der seltsamen hiesigen Mode an der Schulter. Schuhe, die zwar bereits eingetragen waren, dafür aber höchst geeignet für eine Bergtour schienen. Alles war sauber, Unterwäsche und Strümpfe wohl sogar neu.
Ich stutzte. Die Kleidung war eher für einen Ausflug in die Berge als für ein friedliches Abendessen gedacht.
Doch kaum hatte der Diener mich ins Esszimmer gebracht, klärte Dietrich mich auf: »Ich habe darum gebeten, dir diese Kleidung zu geben, damit du im Notfall ... das Haus schnell verlassen kannst und doch angemessen gekleidet bist. Deswegen sind die Schuhe auch schon getragen.«
»Du bist wirklich vorausschauend«, meinte ich.
»Ich bin sehr vorausschauend«, antwortete Dietrich traurig. »Manchmal viel zu sehr. Aber das ist besser, als am Ende das Nachsehen zu haben.«
Der Tisch war bereits gedeckt, aber zu meiner großen Erleichterung bediente uns niemand. Dietrich hatte offensichtlich auch daran gedacht: dass uns niemand bei unserem Gespräch störte.
»Ich würde dich so gern ausfragen«, gestand er verlegen ein. »Aber du hast Hunger. Also iss, ich erzähl dir derweil alles, was ich weiß.«
Ich aß. Mit großem Appetit. Zunächst gab es Ente in Orangensoße. Irgendwie chinesisch zubereitet, wenn auch in dieser Welt mit gewissen Veränderungen. Dann folgte eine sämige Suppe aus Miesmuscheln, Fischen und Tintenfischen oder Kraken, die so klein zerhackt waren, dass du das nicht mehr erkennen konntest. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, dass man hier - genau wie auf Arkan - den Hauptgang zuerst aß. Ob die Funktionale diese Angewohnheit damals von hier mit nach Arkan gebracht hatten? War das womöglich doch nicht die Zukunft meiner Welt?