Aber ich hütete mich besser davor, aufgrund der Speiseabfolge solche Schlussfolgerungen zu ziehen.
Dietrich erzählte mir inzwischen alles ausführlich und im Detail. Er fing mit seiner Kindheit an, wie er den Turm gesehen hatte, ihm aber bis auf seinen Vater niemand geglaubt hatte. Sein Vater hatte jedoch verlangt, er solle nie wieder ein Wort darüber verlieren. Er hatte das damit begründet, dass diejenigen, die den Turm sehen, von den Menschen-über-den-Menschen fortgeschleppt würden. Bis heute wusste Dietrich nicht, ob an diesen Worten etwas dran war. Er war sich nicht einmal sicher, ob sein Vater den Turm ebenfalls gesehen hatte; seine Mutter und seine Schwester hatten ihn jedenfalls nie gesehen. Da er jedoch ein braver Junge gewesen war, kam er nie wieder auf das Thema zurück. Von wenigen Ausnahmen abgesehen.
Er berichtete von seiner Familie, vom Geschlecht der Dietrichs, dessen Wurzeln weit, weit zurückreichten, bis hinein in die Zeit vor jener mysteriösen Katastrophe, welche die Welt verändert hatte. Ich hatte den Eindruck, dass er wirklich eine gute Familie haben musste, die nie nach der Macht gegriffen hatte und auf der ganzen Insel verehrt wurde.
Alles, was Dietrich von den Menschen-über-den-Menschen wusste, teilte er mir mit. Sie kamen meist zur Frühjahrsmesse und zu Festen in die Stadt. Sie erwarben alle Artefakte vom Kontinent. Manchmal mischten sie sich unters einfache Volk. Ihre Soldaten suchten regelmäßig leichte Mädchen auf. Seinen Worten entnahm ich, dass es als Glücksfall galt, ein Kind von einem solchen Kunden zu bekommen und eine Prostituierte in diesem Fall, nunmehr eine gute Partie, gern geheiratet wurde - natürlich nur, sofern sie das wünschte. Die Menschen-über-den-Menschen selbst interessierten sich in keiner Weise für etwaige Sprösslinge, die ihrerseits wie normale Kinder aufwuchsen, allerdings ebenfalls als gute Partie galten. Damit variieren die Funktionale fröhlich und ganz inoffiziell den Genfond der hiesigen kleinen Menschheit, dachte ich bei mir.
»Kommen sie immer mit den Soldaten?«, wollte ich wissen.
»Ja. Die Soldaten kriegen aber kaum den Mund auf. Sie verstehen unsere Sprache nicht gut. Aber die anderen, die ohne Waffen, die können sie frei sprechen. Genau wie du.«
»Die Soldaten sind vermutlich keine Funktionale«, erklärte ich. »Es sind normale Menschen aus einer anderen Welt, aus Arkan ... Und sie verlassen die Insel jedes Mal wieder?«
»Es gibt Gerüchte, dass sich die Soldaten manchmal in unsere Frauen verlieben und für immer hierbleiben. Aber du kennst die Frauen ja, sie können sich so was auch ausdenken, weil es so romantisch klingt. Das alte Lied ...«
»Und es hat nie Konflikte gegeben?«
»Nein. Sie sind immer sehr höflich. Natürlich, manchmal handeln sie heimlich mit uns ...« Dietrich legte eine Pause ein. »Mein Vater hat kurz vor seinem Tod mit einem von ihnen ein hübsches Geschäft abgeschlossen. Er hatte eine Perle. So eine hast du noch nie gesehen ... von der Größe!« Dietrich beschrieb mit den Händen eine Perle von der Größe eines kleines Apfels. »Sie war absolut weiß und milchig. Eine perfekte runde Kugel. Wenn ich mir vorstelle, was mein Vater für sie ausgegeben hat ... Er hat sie einem Soldaten eingetauscht ...«
»Zeig mir mal, wofür«, verlangte ich. »Ich glaube, ich weiß, wovon du sprichst!«
Lächelnd erhob sich Dietrich vom Esstisch. In der hinteren Ecke des Zimmers lag auf dem Rauchtisch ein Gegenstand, der in festen roten Stoff gehüllt war. Dietrich lüpfte das Tuch und präsentierte mir den Inhalt feierlich: »Hier. Die Waffe der Menschen-über-den-Menschen.«
»Da ... da muss der Soldat von seiner Gier überwältigt worden sein ...«, meinte ich, obwohl ich ein wenig enttäuscht war. Dietrich hielt eine MPi in der Hand, genauso eine wie die, die mir im Meer abhandengekommen war.
»Nur die Patronen fehlen«, bemerkte Dietrich in bedauerndem Ton. »Hier, in diese Öffnung wird ein Spezialbehälter geschoben, in dem die Patronen stecken. Mein Vater hat versucht, welche herzustellen, aber das ist ihm nicht gelungen.«
»Ich habe noch ein Magazin in meiner Tasche«, erklärte ich. »Da sind zwar nur noch vierzehn Patronen drin. Aber das ist natürlich besser als nichts ...«
»Nimm es.« Dietrich hielt mir das Gewehr hin. »In dem Falle ist es deins.«
»Eine Perle«, sagte ich. »Von unsagbarer Schönheit und unschätzbarem Wert. Ja?«
»Die Perle hätte ich gern wieder«, gab Dietrich zu. »Aber eine Waffe ... ich kann damit nicht umgehen. Ein wichtiges Teil und die Patronen fehlen mir. Außerdem brauchst du sie.«
»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Ich habe meine MPi verloren. Im Meer. Nachdem ich mich an einer Schnur am Felsen abgeseilt hatte. Ich hatte eine extrem stabile, aber dünne Schnur. Sie sah aus wie Nähgarn. Ich habe sie durch die MPi geführt ...«
»Ja, das kenne ich«, unterbrach Dietrich mich. »Der Soldat hat es meinem Vater gezeigt und der mir. Du musst einfach den Kolben aufklappen ... da ist eine spezielle Führung drin, siehst du hier, da ziehst du den Faden durch, und außerdem noch diese Klemme, die den Fall kontrolliert. Du hältst dich am Lauf und am Kolben fest und kannst mit dem Finger ganz einfach das Tempo regulieren ... Du bist klug, Kirill, wenn du da von allein drauf gekommen bist!«
»Du hast ja keine Ahnung, wie dämlich ich bin!«, entgegnete ich, den Blick fest auf die MPi gerichtet. »Ich ... also ich hab das alles ganz anders angestellt. Völlig anders. Und hätte mir beinah das Genick gebrochen.«
»Dann hattest du einfach Glück«, sagte Dietrich. »Und vielleicht ist das sogar besser als klug, aber ein Pechvogel zu sein.«
Achtzehn
Aus unerfindlichen Gründen glauben wir gern, Menschen, die uns gefallen und auf die wir womöglich sogar eifersüchtig sind - all diese erfolgreichen Sportler, populären Schauspieler, berühmten Sänger und reichen Geschäftsleute -, seien permanent glücklich. Die Boulevardpresse wiederum lebt dann einzig und allein davon, uns eines Besseren zu belehren: Sie hat sich scheiden lassen, er trinkt, die beiden haben sich geprügelt, er hat sie betrogen. Wir lesen das, der eine angewidert, der andere mit entzückter Neugier. Und wir lesen dergleichen nicht etwa deshalb, weil das Leid und die Sünden all dieser VIPs so groß wären. Sondern weil allein dieser in der Zeitung en détail verbreitete Schwachsinn imstande ist, uns zu trösten. Sie sind genau wie wir. Sie trinken Champagner für tausend Dollar, wir chilenischen Wein. Sie fahren nach Österreich in einen Wintersportort, wir zu unserer Schwiegermutter auf die Datscha. Ihnen spendet ein ganzes Stadion Beifall, uns lobt unsere Frau dafür, dass wir den Müll runtergebracht haben. All das hat jedoch nicht die geringste Bedeutung, wenn sie an der gleichen Sehnsucht leiden, an der gleichen Schwermut, an der gleichen Eifersucht und an den gleichen Herabsetzungen.
Wir bemerken nicht einmal, wie wir selbst die Feder spannen, die sie zwingt, Sammlerweine zu trinken, obwohl sie von denen keine Ahnung haben und eigentlich viel lieber ein Bier hätten, die sie zwingt, in Courchevel rumzupöbeln und sich mit Journalisten zu prügeln. Denn je hartnäckiger du einen Menschen mit der Nase in seine Probleme stößt und ihn anbrüllst: »Du bist doch genauso ein Schwein wie wir!«, desto entschlossener will er kontern: »Nein, nicht genauso eins - ein viel größeres!«
Ich betrachtete den jungen, attraktiven und klugen Mann, den nahezu die gesamte Bevölkerung dieser kleinen Welt verehrte, und begriff, dass er nicht besonders glücklich war. Die unsichtbare Zange der Verantwortung, des Neids und der Ungleichheit hielt die Menschen hier ebenfalls gepackt, wenn auch nicht so fest wie bei uns. Insofern hatte er entweder Glück gehabt oder er durfte es sich als Verdienst anrechen, trotz allem ein netter Kerl geblieben zu sein.