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»Du willst mir doch nicht weismachen, du seist unglücklich?«

Dietrich grinste. »Noch nie in meinem Leben habe ich das getan, was ich gern tun wollte. Wegen der Familientradition. Wenn dein Urgroßvater in den Hungertagen all seine Lebensmittelvorräte verteilt und damit die Stadt gerettet hat, wenn dein Großvater den ersten Stausee angelegt hat, wenn dein Vater vierzig Jahre lang Friedensrichter war, dann erwarten alle von dir, dass du ...« Er verstummte.

»... große Taten vollbringst?«

»Nein! Wenn es doch wenigstens große Taten wären! Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie gern ich mit dir zu diesem Turm gehen würde? Aber das werde ich nicht tun. Auf mich wartet nämlich ... Arbeit. Die darin besteht, ein genauso aktiver, großzügiger, geduldiger und innovativer Mann zu sein wie meine Vorfahren. Es muss diesen höchst achtbaren Al Dietrich geben, an den sich im Notfall sowohl die Stadt als auch jeder einzelne Mensch wenden kann. Das geht so weit, dass ich verpflichtet bin, eine kluge, arme und hässliche Frau zu heiraten.«

Ich lachte.

»Du findest das komisch. Aber das ist nun mal Tradition. Genau wie all die Legenden der Prostituierten über Soldaten, die sich in eine von ihnen verliebt haben. Nur ist das hier bitterer Ernst, die Dietrichs haben sich immer kluge Frauen aus einfachen Familien gewählt. Die hässlich waren.«

»Aber die Bibliothekarin sieht gut aus«, sagte ich unbedacht.

Dietrich wurde rot.

»Magst du einen Wein?«

»Was für eine Frage!«

Er entkorkte eine Flasche und schenkte uns beiden ein Glas Rotwein ein. »Sie sieht gut aus«, murmelte er. »Und sie ist aus einer reichen Familie. Mit der Herrscherdynastie verwandt.«

»Immerhin ist sie klug. Damit wäre wenigstens eine Bedingung erfüllt.«

»Du bist ein Blödmann, wenn auch aus einer anderen Welt«, knurrte Dietrich.

Mit einem Mal hatte ich den Eindruck, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. »Selber Idiot«, konterte ich deshalb bedenkenlos. »Was du tust, ist notwendig. Deine Heldentaten bestehen halt nun mal nicht darin, mit der Waffe in der Hand in die Berge hochzukraxeln. Vor allem da dir die Menschen-über-den-Menschen nichts getan haben ... Du hast deine Stellung und wirst verehrt. Und zwar völlig zu Recht. Also mach weiter. Züchte deine Orangen, bau eine Fabrik auf, erfinde was. Es gibt genug Dinge, um die du dich kümmern kannst. Statte eine Expedition aus. Die nicht bloß an der Küste des Festlands die Ruinen plündert, sondern weiter auf den Kontinent vordringt. Erstell Karten, die etwas taugen. Vielleicht seid ihr in eurer Welt ja nicht die Einzigen. Selbst wenn alle Kontinente untergegangen sind, existieren noch genug Inseln. Finde endlich heraus, wo ihr lebt ... in Grönland oder in Japan.«

Dietrichs Augen schienen zu leuchten. Sollte ihm das, was ich da eben vorgeschlagen hatte, tatsächlich noch nie in den Sinn gekommen sein?

»Auf dem offenen Meer ist es gefährlich«, sagte er dann. »Nur mutige Menschen bleiben nicht an der Küste, sondern stoßen ins Nichts vor.«

»Bei uns hat es auch solche mutige Menschen gegeben, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bei euch ausgestorben sind. Finde Kapitän Van Tao. Er ist äußerst mutig. Und er braucht meiner Ansicht nach Geld. Zu allem Überfluss habe ich ihm auch noch fünfzehn Mark geklaut«, gab ich in einem Anflug von Offenheit zu. »Mit dem Kleingeld sogar mehr.«

»Ich werde es ihm zurückgeben«, versprach Dietrich mit einem Lächeln. »Und ich werde ihn fragen, wie mutig er ist.«

»Und heirate«, fügte ich noch hinzu. »Damit die Leute wieder wissen, woran sie sind. Die Besucher der Bibliothek zerreißen sich sonst ...«

»Da kommen doch nur sabbernde Kinder und alte Furzorgeln hin«, blaffte Dietrich.

»Kinder könntest du auch in die Welt setzen ...«

»Hör auf damit, ja?«, platzte Dietrich der Kragen. »Du führst dich auf wie mein Vater!«

»Ja und? Wenn ich aus der Vergangenheit komme, dann bin ich in gewisser Weise dein Vorfahr. Dann kann ich dir auch sagen, was du tun sollst.«

Seltsamerweise ließ sich Dietrich das Argument ernsthaft durch den Kopf gehen. Offensichtlich hielt er wirklich viel von seinen Vorfahren.

»Das gilt aber nur, wenn deine Theorie zutrifft«, erwiderte er nach einigem Nachdenken. »Insofern solltest du besser aufhören ... meinen großen Bruder zu spielen. Also, erzähl mir ein bisschen von dir. Von deiner Welt.«

»Was willst du denn hören?«, fragte ich. »Ich habe als Verkäufer gearbeitet - um es mal ganz unverblümt zu sagen. Ich habe Computer verkauft.«

»Was ist das?«

Ich erklärte ihm, was es mit einem Computer auf sich hatte. Dabei ließ ich mich so von dem Thema hinreißen, dass ich ihm im Schnelldurchgang auch noch die Vorund Nachteile von Vista im Vergleich zu XP erläuterte und ihm meine Position im ewigen Kampf zwischen Intel und AMD darlegte.

»Und das bezeichnest du als uninteressant?«, fragte Dietrich fassungslos. »Computerverkäufer - war es das, was du werden wolltest?«

»Natürlich nicht! Wer träumt denn schon davon, Verkäufer zu werden?«

»Bei uns ziemlich viele.«

»Die Mentalität ist eben eine andere ... Ich habe am Institut für Luftfahrt studiert. Fachrichtung Raumfahrt. Eine dumme Entscheidung, ein Kindheitstraum. Bei uns träumen alle Kinder davon, Unmengen Eis zu essen, Pilot zu werden oder Kosmonaut ...«

»Was ist ein Kosmonaut? Über Piloten habe ich schon mal etwas gelesen.«

Also musste ich auch das erklären.

Zu meiner Überraschung riss mich dieses Thema noch mehr mit. Ich hatte immer gedacht, ich hätte nach den drei Jahren Studium alles vergessen. Jetzt zeigte sich jedoch, dass irgendwo in meinem Gedächtnis noch alles vorhanden war. Die Erinnerungen waren angenehm, aber auch ein wenig schmerzlich, wie an eine Frau, die du mal geliebt und von der du dich in beiderseitigem Einvernehmen getrennt hast - da bleibt auch immer etwas Unausgesprochenes zurück.

»Und du willst mir weismachen, eure Welt sei uninteressant?«, brachte Dietrich hervor. »Ihr fliegt zum Mond und wollt auf den Mars fliegen. Eure Welt kann man an einem einzigen Tag durchqueren! Und du behauptest, sie sei uninteressant!«

»Vermutlich weil wir uns daran gewöhnt haben. Uns kommt das alles ganz normal vor.«

»Ihr seid echt bescheuert«, urteilte Dietrich. »Computer, Flugzeuge und Raketen. Der Mond!«

Er schüttelte den Kopf und schenkte uns Wein nach. Es war ein guter Wein, vermutlich aus eigenem Anbau, der im Keller gelagert wurde, in großen Fässern ...

»Es ist schon spät«, bemerkte Dietrich bedauernd. »Ich könnte die ganze Nacht mit dir verplaudern. Aber du willst morgen früh zum Turm hoch, oder?«

»Ja.«

»Da solltest du besser ausgeschlafen sein.«

Er hatte eben doch ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl.

»Gut.« Ich trank den Wein aus. »Vielen Dank ... für das Gewehr, und überhaupt für alles.«

»Ich werde dich morgen noch ein Stückchen begleiten«, sagte Dietrich leise. Um dann voller Inbrunst hinzuzufügen: »Wenn du wüsstest, wie gern ich zusammen mit dir hoch zu diesem Turm gehen würde!«

Der Morgen war entsetzlich.

Beim Aufwachen hörte ich, wie der Regen ans Fenster trommelte. Eigentlich ist es ja fabelhaft, auf diese Weise wach zu werden - wenn es Samstagmorgen ist oder Sonntag, du nirgends hin musst, noch ein bisschen liegen bleiben und schlummern kannst, bis du irgendwann den Fernseher anstellst und dir irgendeine dämliche Talkshow anguckst, während du das Frühstück machst, immer mal wieder auf die nasse Fensterscheibe schaust, über die dicke Tropfen rinnen, und all die Leute bemitleidest, die unter den Kuppeln ihrer Regenschirme durch die Straßen eilen ...