Mir jedoch stand etwas anderes bevor.
Ich wälzte mich aus dem Bett, zog die Gardine zur Seite und schaute zum Fenster hinaus. Graue Wolken lagen wie eine nasse Decke über den Berghängen, keine Menschenseele war unterwegs. Auf dem Fensterbrett weichten zwei Tauben in ihrem gesträubten Federkleid auf. Der Turm war nicht zu sehen, fast als existierte er tatsächlich nicht.
Ein guter Feldherr würde einen Soldaten bei diesem Wetter nicht in die Kugeln hinausjagen.
Zu bedauerlich, dass ich Feldherr und Soldat in einem war.
Ich ging hinunter und traf Dietrich im Esszimmer an. Als hätte er es gar nicht verlassen. Vielleicht entsprach das ja sogar den Tatsachen, denn auf dem Tisch stand eine weitere leere Weinflasche, der Aschenbecher auf dem Rauchtisch quoll über von Zigarettenkippen.
»Guten Morgen«, begrüßte mich Dietrich. Er sah wirklich unausgeschlafen aus. »Scheußliches Wetter heute.«
»Hmm«, gab ich zurück. Der Diener kam herein und deckte den Tisch. Frisch gepresster Saft, Tee, Brot, Käse und Wurst. Etwas Warmes gab es nicht zum Frühstück, aber meine Stimmung hatte mir sowieso den Appetit verdorben.
»Wollen wir unsere Expedition vielleicht auf morgen verschieben?«, fragte Dietrich. »Dann könnten wir uns auch besser vorbereiten. Ich könnte meine Leute fragen, vielleicht würde dich einer von ihnen begleiten.«
»Sie haben Angst vor dem Roboter. Vor dem Eisenmann.«
»Das sind doch Märchen«, meinte Dietrich verächtlich. »So etwas gibt es doch nicht.«
»In unserer Welt schon. Die Dinger sind natürlich noch nicht perfekt, aber es gibt sie. Maschinen aus Eisen, die sich bewegen können und von einem Computer gesteuert werden.«
»Und diese Maschine läuft auf zwei Beinen?«
»Ja ... so in etwa.«
»Diese Gerüchte halten sich schon rund fünfzig Jahre! In dieser Zeit wäre jede Maschine kaputt gegangen ... falls es sie denn überhaupt gegeben hat.«
Ich zuckte mit den Achseln und machte mir ein Brot mit einer Scheibe Käse und einer Scheibe Wurst.
»Soll ich dir eine Suppe kommen lassen?«, erkundigte sich Dietrich. »Oder Fleisch?«
»Nein, nicht nötig.«
»Ich habe mir überlegt, was du noch mitnehmen solltest. Eine Schnur.« Dietrich deutete mit einem Nicken auf eine Leine, die auf dem Tisch lag. »Sie ist natürlich nicht so dünn und bequem wie die der Menschen-über-den-Menschen. Aber sie ist stabil. Dann noch ein Jagdmesser.«
Ich lachte los. »Mit Klingen habe ich kein Glück. Eine Frau, ein Funktional, schenkt mir ständig Dolche, die sie geschmiedet hat.«
»Ein Schmiedfunktional?«
»Nein, sie ist auch Zöllnerin. Aber sie schmiedet, das ist ihr Hobby. Vielleicht will sie auf diese Weise zeigen, dass sie auch ohne ihre Funktionalsfähigkeiten etwas zustande bringt. Sie hat mir zwei Dolche geschenkt, und ich habe sie beide verloren. Ich habe sie nicht einmal gebraucht.«
»Es ist nicht schlimm, wenn du das Messer verlierst«, meinte Dietrich unbekümmert. »Aber ohne Messer solltest du auf gar keinen Fall in die Berge gehen. Dann Streichhölzer ...«
»Die habe ich selbst.«
»Vielleicht kannst du sie trotzdem brauchen. Eine Karte. Ich habe sie heute Nacht gezeichnet. Sie ist zwar nicht hundertprozentig genau, aber orientieren kannst du dich ohne weiteres an ihr. Kerzen. Eine sehr gute Heilsalbe. Wenn du fällst und dir eine Prellung zuziehst ... nur auf offene Wunden darfst du sie nicht schmieren, das brennt. Ein Satz Nachschlüssel. Wir haben mal einen Dieb geschnappt, ihm ordentlich eins verpasst und ihm sein Werkzeug abgenommen ...«
Ich brach in schallendes Gelächter aus. »Dietrich ... Al, ich kann mit Nachschlüsseln nicht umgehen. Ich bin kein Dieb. Außerdem gibt es dort bestimmt keine normalen Schlösser. Eher elektronische.«
»Und wenn schon ... sie sind ja nicht schwer. Und dann noch das.«
Ich wollte schon wieder loslachen. Aber als ich Dietrich ansah, verkniff ich es mir.
»Ein toller Regenschirm«, sagte ich.
»Natürlich ist es affig, mit einem Schirm in die Berge zu klettern«, meinte Dietrich. »Das ist mir auch klar. Aber anfangs ist der Weg noch ziemlich gerade. Was willst du da nass werden? Nachher schmeißt du ihn einfach weg, damit er dich nicht stört.«
Niemand begleitete uns, als wir das Anwesen verließen. Vermutlich hatte Dietrich auch das so angeordnet. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, es tröpfelte nur noch fein, eher ein Sprühregen.
»Das ist ein alter Weg«, erklärte mir Dietrich, während wir an den Orangenhainen entlangwanderten. »Bis hierher werden die Felder noch bestellt. Aber hinter diese Kurve wagt sich dann niemand mehr. Da stehen nur noch verwilderte Bäume, die wenig Früchte tragen ... und die erntet auch niemand.«
»Warum eigentlich nicht? Wenn den Turm doch eh niemand sieht?«
»Wegen der Geschichten vom Eisenmann. Und die Erde ist hier sowieso ... nicht gut. Steinig.«
Wir kamen an einen mit Gras und Büschen bewachsenen Felsblock, der sich irgendwann vom Berg gelöst haben musste. Ein kaum erkennbarer Pfad führte um ihn herum. Danach verlor sich der Weg mehr oder weniger, ihn benutzte offenbar wirklich kaum jemand.
»Hier verlass ich dich«, teilte Dietrich mir mit.
Wir blieben stehen.
»Vielen Dank für alles«, sagte ich aufrichtig. »Danke. Mir hätte nichts Besseres passieren können, als dich zu treffen.«
»Viel Glück, Kirill. Schade, dass du aus einer anderen Welt bist.«
So kann’s kommen. Du lernst einen Menschen kennen und merkst, dass er dein Freund werden könnte. Vielleicht sogar dein bester Freund. Aber das Leben treibt euch in andere Richtungen, und nur in Kinderbüchern bleiben Freunde allen Schwierigkeiten zum Trotz Freunde.
»Ich würde gern glauben, dass ich wirklich dein Vorfahr bin«, erwiderte ich. »Es muss doch einen Grund haben, dass wir uns so ähnlich sehen.«
»Ich hätte nichts dagegen. In unserer Familie gab es keine Helden, wir sind alle bloß unermüdliche Arbeitstiere.« Dietrich setzte ein schiefes Lächeln auf.
»Und auf die kommt es an.«
»Pass auf dich auf.« Dietrich drückte mir fest die Hand, drehte sich um und ging zurück.
Letzten Endes war er doch der geborene Befehlshaber. Denn ein Befehlshaber ist nicht derjenige, der auf einem wilden Pferd vorneweg galoppiert. Es ist derjenige, der einen jeden in die richtige Richtung schickt. Und selbst rechtzeitig haltmacht.
Ich blieb noch kurz stehen, hielt den großen bunten Regenschirm unbeholfen über mich. Aber Dietrich drehte sich nicht noch einmal um, sondern entfernte sich mit jedem Schritt schneller.
Da setzte auch ich mich in Bewegung.
Jeder muss tun, was er tun muss. Jeder muss seinen eigenen Garten bestellen. Und es ist nicht meine Schuld, dass in meinem Garten blaue Bohnen wachsen.
Der Regenschirm leistete mir wirklich eine ganze Weile gute Dienste. Als der Regen einmal stärker wurde, stellte ich mich unter einen Baum, vom Schirm zusätzlich geschützt. Sobald der Schauer nachließ und wieder Sprühregen wich, marschierte ich weiter. Irgendwann wurde der Hang steiler, dichtes Gestrüpp behinderte mich - und damit wurde der Schirm endgültig zu einer Last.
Ich blieb stehen. Genau in dem Moment frischte der Wind auf und riss mir den Schirm aus der Hand. Wie ein riesiger Schmetterling stieg er kreiselnd in die regenfeuchte Luft auf und flog davon.
Flieg nur. Flieg über das Anwesen von Al Dietrich, lande in dieser ruhigen Stadt am Fuß der Berge, finde die Frau aus der Bibliothek, die ohne Schirm aus dem Gebäude eilt, und gleite in ihre Hand. Vielleicht wird sie erkennen, wessen Schirm das ist - und eines Tages zu dem Anwesen fahren, um ihn seinem Besitzer zurückzugeben.
Ich lächelte. Mannomann! Was ich doch für ein Romantiker war!
Dabei sollte ich heute meine fünf Sinne lieber beisammen haben ...
Während des restlichen Wegs drehte ich mich nicht noch einmal um und dachte an nichts Besonderes. Ich kraxelte den Berg hoch, folgte verschiedenen Pfaden, die von Tieren stammten oder vom Wasser, das über den Berg heruntergeströmt war. Zu meiner Freude hörte der Regen endgültig auf. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass ich bereits die Wolken erreicht hatte, die über dem Hang hingen, und mich in grauem dichtem Nebel fortbewegte. Es war leise, alle Geräusche wurden erstickt, selbst der Stein unter meinen Füßen fiel nahezu lautlos in die Tiefe. Jetzt nur keine Panik, das war ein ganz normaler Anstieg.