»Ich habe den Befehl nicht richtig formuliert«, sagte ich. »Entschuldige. Soll ich anordnen, dass wir wieder runtergebracht werden?«
»Der Befehl war richtig«, meinte der Roboter sorglos. »Wir wurden aufs Dach gebracht, weil das nötig ist.«
»Für wen?«
Der Roboter erwiderte kein Wort.
»Im Foyer haben sie mir etwas von einem Kustoden erzählt«, teilte ich ihm mit. Vorsichtig trat ich ein paar Schritte vom Roboter weg. Die Oberfläche des Dachs war fest, rau und leicht abschüssig. Trotzdem flößte mir das Ganze Angst ein. »Wer könnte das sein? Wer passt auf das Museum auf?«
»Ein Engel«, antwortete der Roboter nachdenklich.
»Ein Schutz-Engel?« Ich lachte los. »Würde mir gefallen, selbst einen zu haben. Das heißt, ich habe vielleicht sogar einen, und dem wird es bestimmt nicht langweilig ...«
»Halt den Mund«, verlangte der Roboter barsch. »Der Engel kommt.«
Ich drehte mich um und folgte seinem Blick.
Mir wurden die Knie weich.
Über die lockere Wolkenwatte kam uns, als schreite er auf festem Boden, ein Engel entgegen. Doppelt so groß wie ein Mensch, in einem blendend weißen Gewand, mit einem lodernden Feuerschwert in Händen. Hinter ihm schlugen träge zwei schneeweiße, funktionslose Flügel in der Luft. Die Haare des Engels fielen ihm in blonden Locken auf die Schultern, unter dem bodenlangen Gewand schauten seine nackten Füße heraus. Bisweilen durchfurchte er die Wolken, bisweilen ging er direkt auf Luft. Dunkle, weise, wiewohl menschliche Augen blickten uns an.
»Lauf weg, Mensch«, sagte der Roboter.
Er musste mich nicht lange bitten - ich stürzte davon, wobei ich auf der Stelle meine Höhenangst vergaß. »Herr ...«, flüsterten meine Lippen wie von selbst. »Herrgott, Vater unser ... Ich glaube, weil ich nicht glaube ... das heißt, ich glaube, ich glaube ... Du mein Gott, ich ... glaube.«
Der Roboter breitete die Arme aus - und ich vernahm ein widerliches Quietschen, als würden Metallscheiben auseinander gerissen. Dann rezitierte er etwas in einem Singsang, das ich nicht auf Anhieb als Gedicht erkannte:
Im Wahn der Kräfte, die verwehen,
Zur Zeit der letzten Überfahrt
Ließ Gott mich einen Engel sehen,
Sein Anblick majestätisch hart.
Daraufhin erklang ein leises Rattern, als würden mehrere Nähmaschinen Stoff mit ihren Nadeln durchlöchern. Auf der Brust des näherkommenden Engels schimmerten blutige Tupfen auf. Aus den gleichmäßig schlagenden Flügeln lösten sich lange weiße Federn. Das leuchtende Gewand des Engels zerfiel in dünne Streifen und wurde, bereits blutgetränkt, vom Wind davongetragen. Unterdessen deklamierte der Roboter weiter.
Er folgt dem göttlichen Gebot,
Sein Blick ist fremd und unverwandt,
Er kennt nicht Hunger, Schmerz noch Not,
Auch Zweifel hat er nie gekannt ...
Zweimal knisterte etwas - worauf den Engel eine durchscheinende blaue Flamme einhüllte. Mit geschmeidigen Tentakeln umfing das Feuer seinen Körper. Die Haare loderten kurz auf. Gleichwohl setzte der Engel seinen Weg fort, den Blick unverwandt auf den wahnsinnigen Dichter gerichtet.
Ich bin ein Mensch, von Gram beschwert,
Im Kerker meines Fleischs gefangen.
Doch wär’ Vollkommenheit nichts wert,
Könnt’ ich sie mühelos erlangen.
Der Flammenengel kletterte über die Brüstung und kam aufs Dach. Der Roboter stieß ein tiefes, dumpfes Dröhnen aus, das alles um uns herum vibrieren ließ. Ich spürte, wie mir das Herz in der Brust hämmerte, wie mein Magen seinen Inhalt herauszubringen trachtete. In meiner rechten Seite stach mich etwas, unterhalb der Rippe. Der Engel hielt einen Moment inne und legte den Kopf auf die Seite, als müsse er gegen heftigen Wind ankämpfen.
Mit Irrtum, Demut und mit Qual,
Wenn Herz und Hirn sich bitter mühen -
Das eingebrannte Sklavenmal
Lässt so allein die Seele glühen.
Dann ging der Engel weiter. Der Roboter schien ins Unermessliche verlängerte Arme nach vorn zu werfen - und den Engel bei den Handgelenken zu packen. Schwankend standen sie einander gegenüber und versuchten, sich zu bezwingen.
Zu teuer sind mir Tod und Leid
Und seltne, bittre Glücksmomente,
Als dass ich für Vollkommenheit
Auf ewig Sklave werden könnte!
Die zerfetzten Flügel des Engels breiteten sich aus, schwangen auf den Roboter zu und hüllten ihn ein. Die beiden verschmolzen in einer Umarmung. Der Engel stand reglos, der Roboter verschwand unter einem Berg blutiger, zitternder Federn.
Ich riss die MPi hoch: Den Lauf richtete ich auf den Engel. »Lass ihn los!«, brüllte ich, so laut ich konnte. »Hau ab? Kapiert?«
Der Engel klappte seine Flügel langsam auf dem Rücken zusammen. Der Roboter trat aus ihnen heraus und sackte als schwerer, toter Haufen Metall aufs Dach.
»Die Frist seines Daseins ist abgelaufen«, erklärte der Engel leise. Seine Wunden hatten sich bereits geschlossen, nur sein Gewand hing noch in blutigen Fetzen an ihm herab, und die Flügel waren jetzt schwarz.
»Er hatte noch zwei Monate und sechs Tage!«
»Das galt, bevor er angefangen hat zu schießen. Linearbeschleuniger verbrennen Monate in wenigen Sekunden.«
»Du bist kein Engel«, sagte ich und senkte die Waffe.
Der Engel nickte. »Nein, ich bin kein Engel. Ich bin der Kustode des Museums. Die Versuche des Cyborgs, ins Museum einzudringen, haben mich nicht interessiert. Ich hätte das natürliche Ende seines seltsamen Lebens abgewartet. Aber du hast das Museum dazu gebracht, sowohl dich einzulassen als auch ihn.«
»Was ist das für ein Museum?«
Der Nicht-Engel bewegte sich langsam auf mich zu. Abermals hob ich die MPi. Der Nicht-Engel lächelte und blieb stehen.
»Glaubst du, das sei wirksamer als Überschallnadeln, kolloides Napalm oder Infraschall?«
»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Aber irgendwas muss ich ja machen.«
»Stimmt auch wieder«, meinte der Nicht-Engel. »Ich kann dich gut verstehen ... Das hier ist einfach ein Museum, mein Junge. In ihm findest du die kuriosesten Exponate der Welt. Es gibt hier Tiere, die seit langem ausgestorben sind, und Tiere, die niemals gelebt haben. Du kannst hier Gedichte eines uralten Puschkin lesen und Abenteuerromane Shakespeares. Du findest die Flugmaschinen, die Leonardo gebaut hat, Energieüberträger von Tesla und Einstein’sche Kraftfeldgeneratoren. Hier werden sogar Cyborgs aufbewahrt, die jenem ähneln, der auf mich geschossen hat.«
»Man kann viel zusammentragen, wenn man ganze Welten ausraubt ...«
»Niemand hat sie ausgeraubt. All das ist hier zusammengekommen, weil die Welten sich verändert haben. D’Anthès ist zu einem Arztfunktional geworden und hat Puschkin nicht erschossen. Der Dichter hat Satisfaktion bekommen, ein friedliches, geruhsames Leben geführt und seine Werke geschaffen. Napoleon hat das Reisen für sich entdeckt, Hitler die vegetarische Küche, Lenin die Philosophie. Wenn du die Geschichte deiner Welt ändern könntest, würdest du ihre historischen Fehler dann nicht vermeiden wollen?«
»Aber diese Welt wäre dann eine andere.«
»Nicht auf Anhieb. Ganz gewiss nicht auf Anhieb. Du machst dir keinen Begriff, was für eine schwerfällige Maschinerie die Zeit ist. Selbst wenn ein schrecklicher, blutiger Krieg aus der Geschichte herausgenommen wird, sterben die Menschen, die sterben sollten, und werden die Menschen, die geboren werden sollten, geboren. Es sind gewaltige Anstrengungen erforderlich, damit die Geschichte einen anderen Lauf nimmt. Früher oder später passiert das freilich, und dann entsteht eine neue Welt. Und obwohl das eine ganze andere Welt ist, entdeckst du in ihr immer noch Splitter der alten Welt, nämlich die leidenden Menschen mit ihren seltsamen Wünschen, die Menschen, die wissen, dass sie ein fremdes Leben leben, die sich daran erinnern, was vor ihrer Zeit geschehen ist ...«