Выбрать главу

Die Zollstation verfügte zum Hof hin weder über Türen noch über Fenster. Hier standen ein paar alte, krumme Bäume, die Erde war mit vermoderten Blättern und abgebrochenen Ästen bedeckt. Die Grenze, hinter der die Menschen blieben und die sie unwillkürlich um das seltsame Haus herumführte, ließ sich klar erkennen, da gab es nämlich einen richtigen Trampelpfad.

Zur Gasse hin machte ich im ersten Stock ein Fenster aus, das jedoch dunkel war, als ob eine Gardine vorgezogen war. Und ich entdeckte die Tür - an die ich voller Vergnügen klopfte.

Stille.

»He, Nachbar!«, rief ich in Erinnerung an meinen ersten Besuch. Was hatte ich damals doch gleich von mir gegeben? Hatte ich das Gebäude nicht für eine Mühle gehalten und mich nach dem Klappern erkundigt? Na ja, wir wollen uns nicht wiederholen. »He! Ich bin ohne Mehlsack gekommen!«

Nach einer Weile hörte ich Schritte, feste, sichere Schritte. Ich grinste, als ich mir Wassilissa vorstellte, diese kräftige muskulöse Frau mit der Lederschürze über dem nackten Körper ...

Gegen diese Fantasien sollte ich mal was unternehmen. Zum Beispiel Brom trinken.

»Wer zum Teufel ...«, drang eine bekannte Stimme gedämpft an mein Ohr. »Ich werd’ verrückt, das kann ja wohl nicht ...«

Die Tür wurde aufgerissen, und ich erblickte Wassilissa.

Die einen rosafarbenen, mit Rüschen und Spitzen besetzten Bademantel trug. Ihre Pantoffeln imitierten kleine weiße Hündchen mit Knopfaugen.

»Kirill«, brachte Wassilissa heraus, die Arme in die Hüften gestemmt. »Ich fass es nicht! Du?«

»Höchstselbst«, antwortete ich, da ich ihre konsternierte Reaktion nicht ganz verstand. Ich versuchte, woanders hinzugucken und Wassilissa nicht allzu offen anzuglotzen.

Gelingen wollte mir das kaum - sie war einfach allgegenwärtig.

»Steh hier nicht wie angewurzelt rum!« Mit einem Ruck zog mich Wassilissa ins Haus. Anschließend steckte sie den Kopf zur Tür hinaus und inspizierte aufmerksam die Umgebung, bevor sie die Tür schloss.

Selbst bei einer Giraffe kommt es irgendwo im Oberstübchen an.

»Du hast es also schon gehört?«, fragte ich. Bei der »Diele« des Hauses handelte es sich um einen Riesensaal, von dem drei Türen abgingen und wo eine Treppe in den ersten Stock führte. Er war absolut leer, es gab nur ein paar Säulen, die die Decke trugen und die mit schmiedeeisenern Haken verziert waren. Vielleicht war das aber auch nur Abfall von Wassilissas Produktion.

»Selbstverständlich.« Wassilissa schnappte sich eine zweifach zusammengefaltete Zeitung, die auf einem an der Tür stehenden Tisch lag - auch er mit schmiedeeisernen Beinen und mit einem geschmiedeten Rahmen, der Scherben dicken Glases einfasste. Das schmale, nur aus einer Doppelseite bestehende Presseerzeugnis erinnerte an die kostenlos verteilten Blätter, die die Bezirks- und Gebietsregierungen von Moskau herausgeben.

»Ja und?«, sagte ich nur, während ich den Namen las: Wöchentliche Funktion. Die Nummer von heute. Durfte man den Kopfangaben trauen, erschien die Zeitung bereits seit 1892.

»Tu nicht so scheinheilig!«, fuhr Wassilissa mich an.

»Sind sie dir auf den Fersen? Wie bist du hergekommen? Mit dem Flugzeug?«

»Nein, mit dem Zug. In Orjol hatten sie einen Hinterhalt geplant, aber ich bin ihnen entwischt ...« Ich faltete die Zeitung auf - und starrte auf mein Bild.

»Er ist ihnen entwischt!« Wassilissa fuchtelte mit den Händen. »Ha! Schaut ihn euch nur mal an ... diesen Entwischer!«

Warum auch immer, aber mir wollte einfach nicht in den Kopf, dass Funktionale eine eigene Zeitung hatten. Ärztefunktionale, Friseurfunktionale, Kellnerfunktionale, all die hatte ich geschluckt. Aber Schreiberlinge konnte ich mir unter meinen Kollegen einfach nicht vorstellen. Obwohl mich mein allererster Besucher, das Briefträgerfunktional, auf diesen Gedanken hätte bringen können ...

Erschaudernd betrachtete ich mein Foto auf der ersten Seite. Es war nicht alt, aber ich hatte keine Ahnung, wer es wann gemacht hatte. Dann las ich den Artikel mit der Überschrift »Der letzte Regenbogen«.

Am schlimmsten war, dass der Artikel im Grunde die Wahrheit enthielt.

Das eine oder andere Detail war nicht ganz ausgeführt. Aber über diese Dinge wusste der Journalist einfach nicht Bescheid, das leuchtete mir sofort ein, zum Beispiel die Rolle, die Kotja gespielt hatte, oder Arkan ... Im Bericht schwang sogar ein gewisses Mitleid mit. Mit dem jungen Mann, der die Trennung von den Eltern und die Verwandlung in ein Funktional innerlich nicht verkraften konnte. Dabei hätte ich zu großen Hoffnung Anlass gegeben, denn ich hätte an einem bislang unerschlossenen Punkt Moskaus einige exzellente Portale geöffnet. Der verhängnisvolle Einfluss versprengter Dissidenten - das denke ich mir nicht aus, das stand da wirklich: Dissidenten! - hätte mich jedoch vom rechten Weg abgebracht.

Knapp zusammengefasst hieß das: Ich hatte eine Frau, die mir gefiel, ihrem Freund ausgespannt; es wurde zwar nicht offen gesagt, aber trotzdem entstand der Eindruck, ich hätte sie ihm mit Gewalt entführt. Ein Polizistenfunktional, das am Tatort war - auch hier entstand der Eindruck, er sei einzig zu Nastjas Rettung gekommen -, hätte ich zusammengeschlagen. Am nächsten Morgen - unwillkürlich sah man glasklar vor sich, wie ich die ganze Nacht über die arme Frau herzog - hätte mich die Hebamme Natalja Iwanowa aufgesucht, die »bereits vielen von uns geholfen hat, das zu werden, was wir jetzt sind«. Ich jedoch hätte erst meine Freundin umgebracht und anschließend Natalja mit einem Stromkabel erwürgt. Daraufhin hätte ich den Turm verlassen; dieser sei in sich zusammengestürzt. Auch hier war kein Wort gelogen, aber jedes Funktional musste danach der felsenfesten Überzeugung sein, dass ich einfach die »Leine« durchgerissen und mich zu weit von meiner Funktion entfernt hätte. Nach alldem sei ich über meinen Freund Konstantin Tschagin hergefallen, den »seitdem niemand mehr gesehen hat«.

Mit dieser Szene beendete der Journalist die Beschreibung meiner Abenteuer und erklärte, das »traurige Ende dieser Geschichte bleibt abzuwarten«.

Was der Regenbogen damit zu tun hatte, war mir schleierhaft.

»Was davon ist gelogen?«, fragte Wassilissa, sobald ihr klar wurde, dass ich den Artikel durchgelesen hatte.

»Im Grunde bloß Kleinigkeiten.« Ich blätterte weiter. Die Rückseite füllten ein Kreuzworträtsel und eine Spalte mit Witzen.

Es gab auch einen Nachruf auf Natalja Iwanowa, an die sich ihre einstigen Schützlinge erinnerten, sowie etwas wie Anzeigen, in denen neue Funktionale aufgezählt und empfohlen wurden.

»Du hast die Iwanowa also nicht umgebracht?«, wollte Wassilissa wissen.

Ich schwieg kurz. »Doch, das habe ich«, antwortete ich schließlich, wobei ich Wassilissa fest in die Augen sah. »Sogar zwei Mal. Und beim zweiten Mal hat’s geklappt.«

»Tüchtig!«, kommentierte Wassilissa und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich geriet kurz ins Wanken. »Dieses Luder! Wenn du wüsstest ... Nein, Männer können nicht verstehen, was für ein Luder sie war! Hast du schon gefrühstückt?«

»Ja.«

»Trotzdem trinken wir jetzt einen Tee.«

Drei

Jedes Volk hat Traditionen, die im Land selbst schon nicht mehr gepflegt werden, dafür aber echte Exportschlager sind. Und je schöner und exotischer eine Tradition ist, desto geringer sind ihre Chancen, in der Heimat zu überdauern. Ähnliches gilt übrigens auch für Menschen.

Die meisten männlichen Einwohner Schottlands bevorzugen Hosen - aber es verlässt nur selten ein Tourist das von Burns besungene Land des Heidekrauts und der Gerste wieder ohne einen karierten Kilt im Gepäck. Die meisten Franzosen schüttelt es beim Anblick von Austern und Froschschenkeln, mit denen sich die nach Exotik dürstenden Touristen vollstopfen. Selbst die Japaner ergötzen sich weniger an den blühenden Kirschen an den Hängen des Fujiyama oder am Studium von Karatetechniken, bevor sie Sushi und Sake zu sich nehmen, als vielmehr an einem schnellen Bier plus Hamburger mit einem amerikanischem Videoclip im Hintergrund.