Die Stimme des Nicht-Engels klang betörend wie Musik. In seinen Augen leuchteten fremde Sonnen.
»Aber wozu das alles?«, fragte ich. »Wenn das so ist, warum geschieht das dann alles? Um eine fremde Welt besser zu machen? Um die eigene zu korrigieren?«
»Aus keinem besonderen Grund, mein Junge«, meinte der Nicht-Engel lächelnd. »Hast du das denn immer noch nicht begriffen? Die Veränderungen haben kein anderes Ziel als die Veränderung selbst. Wenn du von klein auf davon geträumt hast, das dritte Epos von Homer zu lesen ...«
»Welches dritte Epos?«, brachte ich heraus.
»Die Telemachiade. Aber das spielt hier keine Rolle. Lass uns einfach einmal annehmen, du wolltest wissen, was Edgar Allan Poe mit der Eissphinx im Bericht des Arthur Gordon Pym aus Nantucket vorgehabt hat. Warum solltest du ihn das Werk dann nicht vollenden lassen? Oder dich stört der Ausgang der Schlacht bei Tannenberg. Dann spiel sie noch einmal durch. Hilf Wallenrod, rette den Deutschen Orden. Und sieh dir an, was dann mit dieser Welt passiert.«
»Wozu?«, schrie ich. »Wozu denn? Wozu sollen wir die Toten zwingen, erneut in die Schlacht zu ziehen? Warum sollen wir an unserer Vergangenheit herumbasteln, wenn wir doch eine neue Zukunft schaffen können?«
»Zu gar-nichts«, skandierte der Nicht-Engel. »Moskau liegt nicht am Meer, was schade ist. Also musst du in die Zeit gelangen, wo die Erdkruste noch lebendig und formbar ist. Du machst dir keinen Begriff, was für Folgen für ein zukünftiges Landschaftsrelief eine einzige kleine Bombe an der richtigen Stelle hat ... und vor allem zum richtigen Zeitpunkt. Dann kannst du aus deiner kleinen Wohnung zu Fuß an den Strand spazieren und mit dem Badehandtuch wedeln ...«
»Ich verstehe das alles nicht«, fiel ich ihm ins Wort. »Doch, mir ist schon klar, dass das toll wäre, diese Telemachiade, Puschkin, der nicht gestorben ist, und das Meer vor der Tür. Aber wozu gibt es uns, die Funktionale? Es hätte doch auch einfach jemand d’Anthès ein Abführmittel in den Morgenkaffee geben können ...«
Der Nicht-Engel lachte. »Was heißt ›wozu‹? Wozu sind wir denn wohl Funktionale? Um unsere Funktion zu erfüllen. Du hast den Verkehr durch die Portale reguliert, klammheimlich Energie aus der Leere gezogen und deine Türen offen gehalten. Die Menschen sind von einer Welt in die andere gereist. Ich passe aufs Museum auf, kümmere mich um die Exponate, leite Exkursionen ... Möchtest du dir vielleicht mal alles angucken? Es ist wirklich interessant.«
»In den ersten Jahren ist das bestimmt noch interessant«, erwiderte ich.
»Also hast du wenigstens etwas verstanden«, meinte der Nicht-Engel. »Möglicherweise hast du einfach nicht erkannt, was deine Funktion dir bietet? Du bist noch jung, mit jungen Leuten gibt es häufig solche Probleme. Eventuell wärest du besser beraten, wenn du Kurator in deiner Welt würdest? Dein Freund Kotja hat den Posten lange genug innegehabt, Jahrhunderte immer dieselbe Stelle ...«
»Was ... was heißt hier Jahrhunderte? Er hat gesagt ...«
Der Nicht-Engel schüttelte sich vor Lachen. Er stützte sich auf sein blitzendes Schwert, über das Funken einer weißen Flamme liefen.
»Er hat dir allerlei erzählt ... Urteile nicht zu streng über ihn, denn er ist verängstigt. Schließlich weiß er, dass es nur einen Weg gibt, Situationen wie diese zu entscheiden. Und er kann dich nicht umbringen. In deiner Welt würde ohnehin kein einziges Funktional wagen, dir etwas anzutun. Dann würde deine Welt nämlich untergehen.«
»Warum denn das? Du wirst es mir wohl nicht sagen ...«
»Doch. Warum auch nicht? Du hast einen Entwicklungsvektor gehabt, der gefährlich für den Weg gewesen ist, auf dem deine Welt sich voranbewegt hat. Damit blieb logischerweise nur eine Alternative: Entweder du wirst ein Funktional ... oder du stirbst. Manchmal ist das leider unumgänglich ... Aber dein Freund, ein hervorragender Kurator und geschickter Intrigant, war nicht ganz frei von sentimentalen Gefühlen. Er hat dich unter seine persönliche Obhut genommen und eine Funktion für dich ausgesucht, die mit am interessantesten ist. Aber er hat sich verrechnet, du bist aus dem Ruder gelaufen. Und als er dich in seiner Panik beinahe umgebracht hätte« - der Engel breitete die Arme aus -, »war es schon zu spät. Da warst du bereits an deine Funktion angeschlossen. Du warst zu einem Teil aller Kirills dieser Welt geworden. Und in allen Welten hast du eine wichtige Rolle gespielt. Nach jedem Versuch, dich auszulöschen, hast du deine Fähigkeiten zurückgewonnen, ja, sie sogar noch gesteigert ... Sollte dich nun jemand umbringen, könnte es passieren, dass du die ganze Welt mitreißt. Ins Nichts. Oder ...« Der Engel machte eine kurze Pause. »... oder es könnte so kommen wie bei uns. Dass du sie teilweise mit ins Verderben reißt. Auch nicht sehr schön.«
»Und was geschieht jetzt?«
»Jetzt ...« Der Engel seufzte. »Du kannst Konstantin ermorden. Wenn du dich anstrengst, kannst du ihn auch einfach absetzen, indem du die Verbindung des Kurators zu seiner Funktion zerreißt. Lass ihn doch ein ruhiges, einfaches Leben leben, das wird ihm guttun. Du kannst auch immer noch selbst sterben. Aber ich fürchte, das bekäme deiner Welt nicht sonderlich gut ...«
»Es gibt immer einen dritten Weg.«
»Natürlich. Du könntest deine Welt verlassen.«
»Das habe ich bereits getan. Als die Spezialeinheitler aus Arkan mich gejagt haben und ...«
»Aber damals hast du deine Welt nur verlassen, um zurückzukehren. Obendrein hast du dich mit diesem von Angst gepackten Kurator zusammengetan. Wenn du deine Welt für immer verlassen würdest und nach Feste, hierher oder nach Veros gingest, dann würden sie dich in Ruhe lassen. Arkan ist eine spezialisierte Welt, es ist die Staatssicherheit der Funktionale. Einfache, grobe Kerle. Aber ich werde mit ihnen sprechen und deine Entscheidung in aller Klarheit schriftlich darlegen. Ich garantiere dir, dass sie dir dann nichts antun. Das käme nämlich alle Beteiligten teurer zu stehen.«
Er verstummte.
Ich stand da, ließ die Waffe sinken und dachte an Veros. An die ruhige, beschauliche Stadt mit dem unangenehm klingenden Namen Kimgim. An das bizarre Oryssultan. An die Abertausenden von Stadtstaaten, die mit ihren Leben zufrieden waren und durchaus in der Lage, für sich selbst zu sorgen.
Oder Feste. Religiöse Diktaturen sind nicht nach meinem Geschmack, aber ihr störrischer Wunsch, einen eigenen Weg zu gehen, hatte mich für diese Welt eingenommen. Außerdem boten sie den Funktionalen Paroli.
Auch diese verwaiste Welt war bei Licht betrachtet bestimmt interessant. Hier gab es ein Museum, in dem ich mich jahrzehntelang aufhalten könnte. Hier gab es Länder, in denen niemand lebte, in denen sich aber Überreste von jener Zivilisation gehalten hatten, die die Funktionale hervorgebracht hatte - und genau deswegen untergegangen war.
»Wofür entscheidest du dich?«, fragte der Nicht-Engel. »Vergiss nicht, dass dich niemand an eine bestimmte Welt fesselt. Nur deine Erde lass in Ruhe. Im Übrigen kannst du die Dienste der anderen Funktionale in Anspruch nehmen, was eine große Wohltat ist.«
»Du bist hier der Chef, oder?«
»Wir haben keinen Chef!«, antwortete der Nicht-Engel erbost. »Ich bin der Kustode des Museums. Ich unterscheide mich von den Menschen, weil ein Mensch, selbst als Funktional, nicht auf dem Kontinent überleben kann. Aber wir haben keinen Chef. Punktum!«