»Das ist ein verlockendes Angebot«, meinte ich nachdenklich. »Aber eine verdammt schwere Entscheidung ...«
»Und welche Entscheidung triffst du nun?«
»Ich wähle einen vierten Weg. Ich weiß noch nicht, welchen. Aber wenn man dir ein liniiertes Blatt gibt, musst du quer schreiben.«
»Ich fürchte, viele werden meinen Schritt missbilligen«, brachte der Nicht-Engel hervor. »Vor allem, wenn deine Welt vollständig verschwindet. Aber in der gegenwärtigen Situation ... wird der vierte Weg dein Tod sein.«
Er rührte sich langsam von der Stelle. Ich riss meine dämliche MPi wieder hoch - und der Nicht-Engel blieb stehen.
Hatte er etwa tatsächlich Angst vor dieser läppischen Waffe? Nach allem, was ich mitangesehen hatte?
»Weißt du was? Ich könnte mir vorstellen, dass ... wenn Arkan euer Sicherheitsdienst ist ... die sich auf alle Fälle auch vor dir in Acht nehmen müssen«, zischte ich leise. »Vielleicht könnten ihre Waffen auch dir etwas anhaben, oder, Flügelfigur?«
In den Augen des Nichts-Engels loderte Zorn auf.
»Du unwürdige Kreatur! Du bist nichts weiter als der Fehler eines sentimentalen Idioten! Ich werde dich in Stücke reißen, du Knirps! Feuer von mir aus das ganze Magazin leer und hoffe auf ein Wunder - aber Wunder gibt es nicht!«
Er kam auf mich zu, die riesigen Augen mit den senkrecht geschlitzten Pupillen fest auf mich gerichtet. Die Augen wirkten auch jetzt noch weise, wenngleich nicht mehr menschlich. In seinem Rücken klappten die schwarzen Flügel auf. Mein Finger war am Abzug festgefroren.
Mit einem Fall fiel mir Marta ein. Was hatte diese Polin wohl vollbringen sollen - das sie nun nie mehr vollbringen würde?
»Sag mal«, flüsterte ich, »das bist also du, der über der verbrannten Erde fliegt und sich schreiend vom Himmel fallen lässt? Ist es so schrecklich und einsam hier, Nicht-Engel?«
Einen kurzen Moment nur gab sein Blick mich frei, irrten seine Augen durch den Raum, zitterten seine Beine, strauchelte er. Das war, als ob ein einflussreicher Mann, ein Abgeordneter oder Minister, von einem gierigen Kameraauge eingefangen worden wäre, wie er sich während einer Dumasitzung in der Nase bohrte und die Popel inspizierte.
In meine Hände kehrte die Wärme zurück.
Ich zog den Abzug.
Vierzehn Patronen.
Eine lange Salve.
Die Maschinenpistole hämmerte in meinen Händen, der Lauf driftete zur Seite ab. Schon erstaunlich: Aus einer Entfernung von drei Metern schaffte ich es tatsächlich, mit fast allen Kugeln vorbeizuschießen!
Nur eine einzige Kugel landete in der Brust des Nicht-Engels, an der Stelle, wo bei Menschen das Herz sitzt.
Anscheinend tat ihm das weh.
Der Nicht-Engel senkte den Kopf und presste die Hand gegen die Brust. Nach einer Weile zog er die Hand weg und starrte auf das Blut. So langsam, als unterliege er nicht den Gesetzen der Gravitation, ließ er sich auf die Knie sinken.
Ich trat an ihn heran und warf die MPi mit dem abgefeuerten Magazin weg.
»Möchtest du vielleicht ... Kustode des Museums werden?«, fragte der Nicht-Engel leise.
Das Dach unter uns vibrierte. Durch das Gebäude lief ein Beben.
»Stirbst du?«, fragte ich. Meine Stimme zitterte unwillkürlich.
»Ich weiß es nicht. Kann sein ...« Der Nicht-Engel atmete geräuschvoll ein. Jetzt, da er vor mir kniete, war er nur noch wenig größer als ich. »Möchtest du meine Stelle einnehmen? Dann gib mir den Rest.«
Ich schüttelte den Kopf. In seiner Stimme lag die Gewissheit, dass ich ihm tatsächlich den Rest geben könnte.
Aber das wollte ich gar nicht.
Jetzt, da diese dämliche Engelsparodie vor mir kniete ... das Flammenschwert immer noch umklammernd ...
Mit einem Mal begriff ich, dass er seine Waffe einfach nicht loslassen konnte.
Das Schwert war eine Verlängerung seiner Hand!
Ich schüttelte den Kopf noch energischer.
Das Gebäude unter uns wackelte. Was steckte in diesen Kugeln, wenn sowohl das Funktional als auch seine Funktion sich in Krämpfen wanden und ungeheure Energien freisetzten, um dem Nicht-Engel das Leben zu retten?
»Du hast keine Wahl«, erklärte der Nicht-Engel. »Entweder bringst du mich um und wirst ... zu mir. Oder ich bringe dich um.«
»Genau damit habe ich eine Wahl«, entgegnete ich.
Ich hob die Hand und fuhr durch die Luft, als schriebe ich im leeren Raum Worte einer mir unbekannten Sprache. Eine blaue Flamme löste sich knisternd von meinen Fingerspitzen.
»Ich werde euern Chef finden«, sagte ich. »Ganz bestimmt ...«
»Wir haben keinen Chef ...« Der Nicht-Engel zitterte und kippte auf die Seite.
Ich schaute mich ein letztes Mal um. Eine kleine Insel, das Totenbett der Menschheit ... In mir gab es weder Wut noch Angst. Nur Müdigkeit.
Die Feuerschrift des Portals loderte vor mir, und ich trat in sie hinein.
Der Nicht-Engel, der Kustode des Museums, konnte sterben oder überleben. Es gab nichts, wofür ich mich an ihm rächen wollte, aber es gab auch keinen Grund, ihm zu helfen.
So schied ich aus dieser Welt, ohne zu wissen, wohin es mich verschlagen würde.
Einundzwanzig
Alles muss ein Finale haben. Nichts ist grauenvoller als zu entdecken, dass das Ende längst nicht das Ende ist. Ein Läufer, der mit der Brust das Zielband durchreißt und sieht, wie sich vor ihm ein neues spannt; ein Soldat, der einen Panzer abschießt und hinter ihm weitere erspäht; ein langes, schwieriges Gespräch, das mit den Worten endet: »Und jetzt lass uns zur Sache kommen.«
Nein, ein Finale muss es geben, und sei es nur, damit ihm ein neuer Anfang folgt.
Als ich den zyklopischen Turm der Funktionale auf diesem Berg erblickt hatte, war ich mir sicher gewesen, ihr Herz gefunden zu haben. Was ich nicht wusste, war, ob es mir gelingen würde, sie zu besiegen. Aber dass das Ende meines Wegs vor mir lag, daran bestand für mich kein Zweifel.
Anscheinend hatte mein Weg jedoch gerade erst angefangen.
Ich stocherte mit der Fußspitze auf Straßenpflaster herum und sah mich um.
Hallo, Elblag, du kleine polnische Stadt ...
Ich hätte nicht geglaubt, dass mich das Schicksal noch einmal hierherbringen würde ...
»Kirill?«
Ich trat aus dem Portal heraus, auf den Platz mit den Cafés. In der Nähe standen Tische. Es war natürlich schon kalt, aber immerhin liefen neben den bunten Sonnenschirmen Heizpilze, diese hohen Metallstäbe mit den kleinen Häubchen. Europa wie es leibt und lebt. Grinsend blickte ich die Frau an, die sich hinter einem der Tische erhob. Es war Abend, dunkel, es gab hier draußen keine Lampen, nur Kerzen auf den Tischen und den roten Widerschein der glühenden Gitter des katalytischen Brenners.
»Hallo, Marta.«
Der Mann ihr gegenüber starrte mich fassungslos an. Ich schnappte mir einen freien Stuhl vom Nachbartisch und setzte mich zwischen die beiden.
»Dir auch einen schönen guten Tag, Krzysztof Przebyżyński.«
»Du bist verrückt geworden«, sagte der Polizist voller Überzeugung. »Marta, der muss völlig verrückt geworden sein!«
»Ich weiß nicht«, wiegelte Marta ab, während sie mich musterte. »Das Leben hat dich ganz schön mitgenommen, in diesen paar Tagen..«
»Tagen?«, wunderte ich mich. »Ach ja, stimmt. Und ja, es hat mich mitgenommen.«
Ein Kellner kam.
»Proszę pana. Chcia⁄lbym dosta porcj waszych firmowych flaków, salatę jakąś, czyzŻby mien, Cesarz mozŻe być.« Das sagte ich. »I Żubrówkę, dwiecie gram.«
Nachdem der Kellner die Bestellung wiederholt hatte, entfernte er sich. Amüsiert betrachtete ich Krzysztof.
»Deinen Komplizen schnappen wir uns auch noch«, drohte der Polizist mir. Er fühlte sich offenbar nicht gerade wohl in seiner Haut.
»Klar doch. Sagen Sie, Pan Krzysztof, wenn ich nicht aus Russland wäre, würden Sie mich dann auch so leidenschaftlich jagen?«