»Selbstverständlich«, empörte sich Krzysztof. »Das ist schließlich meine Funktion! Obwohl ich die Russen natürlich nicht besonders leiden kann.«
»Warum nicht?«
»Wegen allem, was ihr uns angetan habt!«
»Schon komisch«, sagte ich. »Ganz Europa hat sich immer irgendwas angetan, dass die Fetzen geflogen sind. Aber nur uns mag man nicht ... Aber lassen wir das, es spielt eh keine Rolle.«
Der Kellner brachte den Wodka und den Salat. Ich leerte das Glas in einem Zug und fing an zu essen.
»Und was spielt dann bitte schön eine Rolle?«, fragte Krzysztof alarmiert.
»Was ich jetzt als Nächstes tun soll. Was ich mit Ihnen mache und was ich ...«
Krzysztof hielt es nicht mehr aus. Er sprang auf, war mit einem Satz hinter mir, knallte mir die Hand auf die Schulter und versuchte, mich runter auf den Tisch zu drücken.
Ungerührt aß ich meinen Salat. Hinter mir ächzte Krzysztof. Irgendwann schlang er mir den angewinkelten Arm um den Hals und wollte mich ersticken.
»Der Salat ist sehr gut«, sagte ich. »Obwohl mir schleierhaft ist, warum sie den Cäsar nicht mit frischem, sondern mit vorgefertigtem Dressing angemacht haben ...«
»Mach dich nicht lächerlich, Krzysztof«, sagte Marta leise. »Siehst du denn nicht, dass er mit seiner Funktion verbunden ist?«
Der Polizist gab mich frei und trat einen Schritt von mir weg. »Mit was denn für einer Funktion?«, fragte er unsicher. »Er ist ein Mörder, er hat seine Funktion selber zerstört ...«
»Ich weiß nicht, mit was für einer«, gab Marta zu. »Ich würde dir nur raten, ihn nicht anzurühren. Ansonsten verknotet er dich zu einem Fußball und rollt dich untern Tisch.«
»Gute Idee«, meinte ich. Das Adrenalin, das sich während des Kampfes zwischen dem Roboter und dem Nicht-Engel in mir angestaut hatte, brodelte in meinem Blut. Selbst ein Funktional lässt die Physiologie nicht hinter sich.
Krzysztof kehrte zu seinem Stuhl zurück.
»Ich weiß überhaupt nicht, warum ich bei euch gelandet bin«, sagte ich. »Das heißt, ich weiß es schon ... Vielen Dank, Marta.«
»Wofür?«
»Für die Geschichte von dem Engel, der mit einem Schrei vom Himmel fällt und auf dem Stein aufschlägt. Das hat mich gerettet. Danke.«
»Gern geschehen«, schnaubte Marta. Das, was hier vor sich ging, belustigte sie eher, als dass es sie beunruhigte. »Was ist, Kirill, bist du vielleicht jetzt der neue Kurator?«
»Nicht doch«, antwortete ich und schenkte mir ein Gläschen aus der Karaffe auf dem Tisch ein. »Es ist noch viel komischer. Ich muss eine Wahl treffen. Und ich befinde mich mitten im Prozess der Wahl ... das ist der Stand der Dinge. Was wäre denn ... wenn ich der neue Kurator würde? Wäre das deiner Ansicht nach gut?«
»Ich glaube, dass das nicht das Geringste ändern würde«, entgegnete Marta.
»Sehr klug von dir«, brachte ich erfreut hervor. »Und genau darum geht es. Es würde nicht das Geringste ändern. Wenn es einen Chef gibt, dann kann man den auch absägen. Man kann den brutalen Tyrannen zu Fall bringen und seine Stelle einnehmen ... um selbst zum Tyrannen zu werden, der ebenso brutal ist, wenn auch auf andere Weise. Aber was soll man machen, wenn es überhaupt keinen Chef gibt? Wenn von niemandem etwas abhängt? Wenn das System sich selbst trägt? Dann kann man nichts machen ... Gehen wir mal davon aus, ich sei der neue Kurator ...«
»Das bist du nicht!«, brüllte der Polizist wütend. »Marta! Was sollte der denn für ein Kurator sein? Gut, stimmt schon, irgendwas ist komisch an ihm, und wir sollten ... nichts überstürzen. Deshalb werde ich noch heute einen Bericht abschicken.«
»An wen?«, wollte ich wissen.
»An den Kurator! Den richtigen!«
»Mit einer Brieftaube nach Shambala?«
Krzysztofs Gesicht lief knallrot an, sein Schnurrbart sträubte sich.
»Mit der Post! Wie immer! Nur wird es diesmal nicht um einen Menschen gehen, aus dem ein Funktional gemacht werden könnte, nicht um Streitereien und Auseinandersetzungen, sondern ... sondern um dich.«
»Und du schreibst dem Kurator?«
Etwas in meinem Ton zwang ihn zu antworten, obwohl sein Anfall von Offenheit bereits abgeklungen war.
»Woher soll ich das wissen? Den Hebammen, dem Kurator ... sonst wem. Sollen die das doch unter sich ausmachen. Ich bin nur ein kleines Rad im Getriebe und soll bloß in meinem Territorium für Ordnung sorgen.«
»Ach ja, richtig, die geteilte Macht«, bemerkte ich leichthin. »Ja, genau so ist es leider. Es ist wie bei simplen Lebensformen: Die Nervenganglien ziehen sich durch den ganzen Körper, aber ein Gehirn gibt es nicht. Das ist sehr effektiv ...«
Mit einem Mal war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich sprang auf. »Krzysztof!«, rief ich. »Mein guter polnischer Freund! Lass dich küssen!«
Daraufhin verlor der Polizist endgültig die Nerven. Mit lautem Krachen schnellte er von seinem Stuhl hoch und stieß dabei seinen Teller mit den Resten des Steaks wie auch das Glas Mineralwasser um, das er getrunken hatte.
»Der ist total verrückt, Marta! Gehen wir!«
Ein panisches Polizistenfunktional! Was für ein seltener Anblick!
Marta musterte mich misstrauisch. »Woher rührt plötzlich diese Liebe zu Krzysztof?«
»Er hat mich Idioten auf einen Gedanken gebracht«, antwortete ich mit strahlendem Lächeln. »Es hatte also doch einen Grund, warum ich euch getroffen habe! O ja, den hatte es!«
»Wahrscheinlich hast du recht, Krzysztof«, bemerkte Marta und erhob sich. Nach einem sekundenkurzen Zögern fragte sie: »Hast du Geld, um deine Bestellung zu bezahlen?«
»Woher sollte ich das haben?«, erwiderte ich fröhlich. »Schließlich bin ein stadtbekannter Gigolo, mich halten die Damen in jedem Restaurant frei.«
Schweigend legte Marta ein paar große Scheine auf den Tisch, bevor sie mit Krzysztof davonging.
Aber selbst das verdarb mir nicht die Laune. Ich entschuldige mich bei dem aufgebrachten Kellner für das ungebührliche Benehmen meiner Freunde und half ihm, den Stuhl wieder aufzustellen, den der Polizist umgeworfen hatte. Als der Kellner das Geld auf dem Tisch erblickte, besserte sich seine Stimmung sofort. Ich bekam noch mein Flaki und machte mich sofort darüber her. Anschließend bestellte ich einen Kaffee und ein Eis.
Irgendwann muss man sich doch wohl seine Kindheitsträume erfüllen?
Berge von Eis essen, in einem Feuerwehrauto fahren, die Welt retten?
Ob es wohl Feuerwehrfunktionale gab? Feuerfeste und kühne Wesen, die besonders wertvolle Menschen aus den Flammen retteten?
Irgendwann hörte ich das leise Geräusch eines Motors. Ein Auto kam auf das Café zugefahren und hielt an, ein kleines Stadtauto, auf dessen Rücksitz man bestenfalls zwei Kinder oder einen großen Hund unterbringen könnte. Hinterm Steuer saß ein Mann in mittleren Jahren, der jetzt gemächlich ausstieg. Er trug die schöne Uniform der polnischen Post. Eine Alarmanlage fiepte los, er schloss das Auto ab und trat an meinen Tisch heran.
Ich trank den Kaffee und beobachtete ihn - jenen ersten Briefträger, den ich vor zwei Wochen, nachdem ich zum Funktional geworden war, gesehen hatte, damals in einer Kutsche, wie es in Kimgim üblich war.
»Ein Brief für Sie«, teilte er mir mit, während er den Umschlag vor mich hinlegte und sich auf Krzysztofs Stuhl setzte.
»Briefträger lauf, das Funktional, das wartet drauf!«, alberte ich.
»Bei Ihnen ist mit solchen Kalauern zu rechnen.« Der Mann lächelte verlegen. Er rieb sich die Nasenwurzel. »Wie haben Sie das genannt? Ganglien? Im ganzen Körper? Ein guter Vergleich.«
»Auf ein Hirn kann man verzichten«, sagte ich. »Aber Nerven, die sind obligatorisch. Eine Entscheidung kann jeder treffen, der für einen Bereich verantwortlich ist. Aber jemand muss das Signal vom Rezeptor zum Effektor leiten. Selbst wenn sich das Gehirn nicht in die Signalübertragung einmischt ... Von wem ist der Brief? Von Pan Przebyżyński?«