»Wo denken Sie denn hin! Er wird erst noch schreiben. Und Sie betrifft sein Brief ja auch gar nicht, das ist so ein Aufschrei der gequälten Seele ... an den Kurator oder die Institutionen auf Arkan. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob er das hinkriegt.«
»Von wem ist der Brief dann?«, fragte ich, wehmütig auf den Umschlag blickend. Ein uraltes Ding, noch mit einer Marke für fünf Kopeken, die den Aufdruck »UdSSR« trug, und mit dem lächerlich stolzen Stempel »Avia«. Auf dem Umschlag selbst stand nichts.
»Das wissen Sie doch sehr gut, Kirill. Das ist ein Brief von Ihrem leichtsinnigen und sentimentalen Freund Kotja. Eine ziemlich pompöse Form, Sie zu einem Duell herauszufordern. Leider sind wir damit wieder beim Stand der Dinge von letzter Woche. Wie Ihnen der Kustode des Museums schon gesagt hat: Für Sie beide ist hier nicht genug Platz.«
»Er lebt?«
»Vor einer halben Stunde hat er noch gelebt. Ich habe seinen Brief nach Arkan gebracht. Sie haben übrigens einen guten Eindruck auf ihn gemacht. Er setzt sich dafür ein, dass die Fahndung nach Ihnen eingestellt wird und Sie der Kurator auf Demos werden.«
»Was für eine überraschende Zuneigung ...«, murmelte ich. Ich öffnete den Umschlag. »Und Sie haben keine Angst vor den Arkanern? Wenn eine gewöhnliche Kugel aus ihren Gewehren den Kustoden niederstreckt ...«
»Oh, keine Sorge, Kirill. Erstens liegt das nicht allein an der Kugel, sondern auch am Schützen. Und zweitens ... Arkan ist völlig harmlos. Es erfüllt seine Funktionen, mehr nicht. Es lenkt die Welten, hält die Ordnung in ihnen aufrecht ...«
»Wozu lenkt es die Welten?«
»Damit diejenigen, die es wünschen, diese Welten besuchen können, Kirill.«
»Sie besuchen? Wir sind doch alle gefesselt.«
»Wie kommen Sie denn darauf, dass hier von Funktionalen die Rede ist?« Der Briefträger rückte sich die Brille zurecht. »Sie machen immer wieder denselben Fehler. Sie nehmen an, wir seien etwas Besseres als Angestellte. Sehen Sie endlich der Wahrheit ins Auge, Kirill! Die Zeiten, in denen der Stärkste auch das Sagen hatte, sind längst vorbei. Die klügsten Leuten sitzen sich heute ihre Hosen in Laboratorien durch. Die stärksten Männer lassen ihre Muskeln vor einem johlenden Publikum spielen. Die wendigsten und kühnsten arbeiten als Bodyguards, die präzisesten und kältesten als Killer. Gewiss, wenn du eine wunderbare Stimme hast, avancierst du zum internationalen Star und füllst mit deinen Konzerten Stadien. Dennoch wirst du auf den Partys der Multimillionäre singen und bei den Gipfeltreffen von Politikern, du wirst dir die Kehle aus dem Hals schmettern, um einer Handvoll übersatter Greise samt ihren selbstzufriedenen Gören eine Freude zu machen. Du wirst eine sehr lange Leine aus Seide oder eine Kette aus Gold haben. Aber du gehst an der Leine! Was willst du? Zur Macht vorstoßen? Wach auf, Kirill! Die Macht ist überall um dich herum! Die Macht - das ist das Geld, der Status und die Beziehungen. Willst du etwa behaupten, du hättest nicht begriffen, dass du nur ein Tür-steher bist - wenn ein Vertreter dieser Macht durch deinen Turm in eine andere Welt zu einem Konzert spaziert ist? Du willst uns vernichten? Dann musst du alle Macht der Welt vernichten! Allerdings tritt an ihre Stelle dann eine neue Macht, die uns zufälligerweise wieder ganz gut gebrauchen kann ... Und komm mir nicht mit Feste! Das ist auch nicht anders, auch da hockt haargenau die gleiche Macht, nur dass sie sich aus weltanschaulichen Gründen abgeschottet hat! Genau wie die sowjetische Polit-Elite Urlaub in Sotschi gemacht hat, auch wenn sie eigentlich nach Nizza wollte! Genauso haben die sturköpfigen Kardinäle statt der Angestelltenfunktionale eben ... ihre biologischen Funktionale geschaffen. Nein, wir werden ihnen nichts tun. Aber die Jahre werden vergehen, es wird ihnen zu eng werden - und dann werden sie von selbst zu uns kommen. Zunächst mit einem Friedensangebot, später mit einem Kooperationsvertrag. Nach einer Weile wird es heißen, die Bibel äußere sich höchst billigend über diese Form der Weltengestaltung, worauf sie prompt mit allen anderen Welten des Fächers verschmelzen ...«
Er nahm seine Brille ab und putzte sie. »Du denkst vermutlich: ›Jetzt zieh ich mein Messer oder schnapp mir diese Eisenstange, Kraft genug habe ich ja, und mach das Schwein von Briefträger fertig, der Briefträger ist an allem schuld.‹ Aber ich bin nicht schuld, Kirill. Ich erfülle nur meine Funktion. Und wenn ich sterbe - und früher oder später sterben wir alle -, wird eines Morgens jemand aufwachen, und seine Frau und seine Kinder werden ihn nicht mehr erkennen. Er wird das Haus verlassen und ein kleines Auto mit Schlüssel im Zündschloss sehen. Da wird er sich reinsetzen. Und er wird verstehen, dass das seine Funktion ist. Briefe und Telegramme aus einer Welt in eine andere zu bringen, Zeitungen und Aufzeichnungen ... Und wenn er diese Funktion nicht erfüllen kann, kommt ein neuer Briefträger. Ja, in deiner Auffassung von Herrschaft bin ich ein weit wichtigeres Glied in der Kette als jeder Kurator oder der Kustode des Museums, der sich so überlebt hat, dass er seine menschliche Gestalt eingebüßt hat. Trotzdem bleibe auch ich nur ein Glied. Absolut ersetzbar. Wie wir alle. Die eigene Persönlichkeit verliert vor dem Hintergrund der Geschichte jede Bedeutung, wichtig ist allein die Funktion. Wenn du wüsstest, wie viele Menschen kaltgemacht werden müssen, um auch nur einen einzigen Krieg zu verhindern! Ein freier Posten bleibt nie lange frei.«
»Ich würde das anders ausdrücken. Wo Dreck ist, ist das Schwein nicht weit.«
Der Briefträger schnaubte. Er sah auf die Uhr. »Was ist, hast du nun die Absicht, mich umzubringen oder nicht? Sonst lies den Brief, ich muss die Antwort abliefern.«
Ich holte das Blatt Papier aus dem Umschlag, das aus einem gewöhnlichen Schreibheft herausgerissen worden war. Ich grinste.
»Ja, du und Konstantin, ihr seid einander ähnlich«, sagte der Briefträger. »Wenn sie dir ein liniiertes Blatt gegeben haben, musst du quer schreiben.«
Ich hörte gar nicht hin, sondern las bereits.
Kirill!
Zu meinem großen Bedauern haben die Ereignisse
ausgerechnet die Wendung genommen, die ich und -
wie ich zu hoffen wage - auch du befürchtet haben.
Auf dieser Daseinsebene gibt es keinen Platz für
uns beide. Ich kann verstehen, dass du deine Welt
nicht verlassen willst. Ja, an deiner Stelle hätte ich
mich wahrscheinlich genauso verhalten.
Mit diesem Brief fordere ich dich offiziell zum Duell
heraus. Ort, Zeit und die Wahl der Waffen überlasse
ich dir. In der gegenwärtigen Situation kann ich dir kein
Glück wünschen; lass dir jedoch versichern, dass ich
dir tief im Herzen freundschaftlich verbunden bin usw.
Dein Freund Konstantin
PS: Illan lässt dich grüßen. Ich glaube, wir sollten sie
von dem Duell nicht in Kenntnis setzen.
PPS: Ehrlich gesagt, lebe ich schon so lange auf dieser
Welt, dass sie mir zum Halse raushängt. Verzeih einem
alten byzantinischen Plappermaul seine ewigen Lügen.
Aber ich bin so daran gewöhnt, verschiedene Leben
zu leben, dass ich manchmal selbst daran glaube.
Behutsam faltete ich das Blatt zusammen und steckte es in meine Tasche.
»Wie lautet die Antwort?«, fragte der Briefträger nervös. »Ich würde Sie bitten, umgehend zu antworten. Es warten schon drei Leute in zwei Welten auf mich. Haben Sie bemerkt, dass Ihr Freund Ihnen die Wahl der Waffe überlässt? Das ist ungeheuer großherzig von ihm! Ich würde Ihnen raten, von Schwertern, Säbeln und anderen Hieb- und Stichwaffen abzusehen, damit kennt er sich weitaus besser aus als Sie.«
»War er einmal eine bekannte Persönlichkeit?«, fragte ich nachdenklich.