»Eine ziemlich bekannte. Und er konnte die Dienste des damals existierenden Netzes von Funktionalen nutzen. Irgendwann fand er sich jedoch in einer Situation wieder, in der er lieber selbst zum Funktional werden wollte, statt in eine andere Welt überzusiedeln. Dergleichen kommt nur selten vor. In der Regel verändern solche erfolgreichen Menschen ihre Welt sehr schnell nach ihren Wünschen und taugen danach nicht mehr zum Funktional ... Was soll ich ihm also antworten?«
»Ich werde ihn anrufen«, sagte ich.
»Gut.« Der Briefträger seufzte. »Das habe ich mir gleich gedacht. Dann werde ich mich jetzt mit Ihrer Erlaubnis zurückziehen. Natürlich nur, falls Sie immer noch nicht die Absicht haben, mich umzubringen.«
»Habe ich nicht«, beteuerte ich. Ich erhob mich und pfefferte dem Briefträger eine, mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand. Polternd ging er zu Boden. Der unglückselige Stuhl, der bereits den zweiten Sturz an diesem Tag zu verkraften hatte, zerbrach. Der Briefträger schrie vor Schmerz auf, wischte sich das Blut vom Gesicht, betastete sein Kinn und erhob sich. »Wofür war das?«
»Für Kardinal Rudolf und für Elisa. Für die Hunde von Feste. Glaubst du, ich hätte die Stimme aus dieser Tarnblase nicht wiedererkannt?«
»Das war eine Operation der Arkaner, ich bin nur als Begleitung hinzugezogen worden. Ich war nicht mal bewaffnet!«
»Davon bin ich ausgegangen. Deshalb habe ich dich auch nicht umgebracht.«
Drei Kellner eilten zu uns, im Café rief eine andere Angestellte über Handy an. Wo, war nicht schwer zu erraten.
»Und trotzdem«, meinte der Briefträger, der sich immer noch das Kinn hielt und leicht lispelte, »ich persönlich wünsche Ihnen Erfolg.«
Er drehte sich um und stapfte mit festen Schritten zu seinem Auto. Ich wandte mich den Kellnern zu. Nur zu gern hätte ich noch jemandem eine gesemmelt. Aber obwohl die Jungs kräftig waren, kam keiner auf mich zu. Etwas an mir hielt sie davon ab.
»Das ist empörend, Pan!«, schrie einer der drei.
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung.« Ich schnappte mir die Karaffe und trank den Rest der ZubrówkŻ direkt aus ihr aus. Der idiotische Grashalm verhakte sich natürlich an meinen Zähnen.
Mit einer Hand hielt ich mir die Karaffe an die Lippen, mit der anderen schrieb ich etwas in die Luft. Leicht und bereitwillig lösten sich die flammenden Buchstaben von meinen Fingern. Einer der Kellner bekreuzigte sich, die beiden anderen erstarrten zur Salzsäule. Von einem Tisch etwas weiter abseits, wo ein verliebtes Pärchen turtelte, drang ein hysterischer Aufschrei herüber.
»Macht’s gut, Jungs«, sagte ich und trat in das Portal.
Die Karaffe ließ ich mitgehen.
So entstehen die ungesunden Sensationen, die das Volk nicht braucht.
Mir war leicht schwindlig. Vielleicht waren daran die Sprünge durch den Raum schuld, vielleicht aber auch der Wodka ... Ich stand im Hausflur. Es war der stinknormale, leicht verdreckte Eingang eines Hochhauses, das zwar nicht als erste Adresse gelten konnte, aber auch nicht völlig heruntergekommen war.
Die Karaffe deponierte ich auf der Heizung, den Grashalm spuckte ich aus. Dann stand ich da, den Blick auf die Türen der Fahrstühle gerichtet. An einer war mit Tesafilm ein Zettel geklebt: »Außer Betrieb! Wird morgen repariert!« So wie der Zettel aussah, hing er schon mehrere Tage.
Wie spät es wohl war?
Es war schon dunkel. Aber es waren noch Stimmen zu hören, das Gebell von Hunden. Vielleicht elf. Die Zeit, in der man in Moskau mit den Hunden in den Höfen Gassi geht...
Ich wusste genau, wo ich mich befand. Schließlich hatte ich in diesem Haus meine Kindheit verlebt. Auf dem Treppenabsatz vom zweiten Stock hatten mein Klassenkamerad Wowka und ich die erste Zigarette geraucht und uns anschließend darauf geeinigt, dass Zigaretten ekelhaft schmecken - aber wir mussten ja nun mal erwachsen werden. Nach der achten Klasse hatten wir beide zusammen mit zwei Mädchen dort eine Flasche billigen, süßen Sekts geleert, danach hatte ich zum ersten Mal ein Mädchen geküsst ... erst Mascha, dann Lenka. Es war komisch gewesen und kein bisschen sexy.
Ich ging zum Briefkasten, zog leicht an der Klappe und öffnete ihn auf diese Weise ohne jeden Schlüssel. Ich entnahm ihm die aktuelle Nummer der Komsomolskaja Prawda - mein Vater beharrte stur auf seinem Abo und weigerte sich, die Zeitung am Kiosk zu kaufen wie alle normalen Menschen -, einen Werbeprospekt des Supermarkts Groschik und einen Flyer mit Sonderangeboten für einen Internetanschluss von Korbin-Telekom. Ich hielt nach dem Pappkarton Ausschau, der hier normalerweise für diese Art von Müll bereit stand, fand ihn jedoch nicht.
Also stopfte ich mir die Werbung in die Tasche. Ich drückte den Knopf für den Fahrstuhl, der noch funktionierte, und fuhr in den siebten Stock. Vor der Wohnungstür blieb ich kurz stehen, um zu lauschen. Schließlich klingelte ich.
Cashew kläffte laut los, seiner Funktion alle Ehre machend.
Im Schloss klackte es. Ein Schloss hat eine einfache Arbeit. Jemand steckt einen Schlüssel herein, das Schloss vergewissert sich, dass es der richtige ist, und dreht sich ... So sollte es auch bei den Menschen sein - ganz einfach.
»Kirill?« Mein Vater stand in der Tür, nur in Unterhose und Hemd. »Warum hast du nicht vorher angerufen? Komm rein, Sohnemann ...«
Cashew schoss zu mir auf den Treppenflur hinaus und sprang an meinem Bein hoch. Ich streichelte ihn und betrat die Wohnung.
»Du hast dich rausgeputzt.« Mein Vater musterte mich aufmerksam. »Hast du dir in der Ukraine neue Jeans gekauft?«
»Hmm, die waren da billiger«, meinte ich, während ich mir die Schuhe auszog. Cashews Zunge wanderte über mein Gesicht, wobei der Hund ab und an unzufrieden schnaufte.
»Hast du was getrunken?«, fragte mein Vater, während er theatralisch schnupperte.
»Ein bisschen. Im Zug.«
Meine Mutter erschien, im Bademantel. »Du bist ja ganz blass«, rief sie entsetzt aus. »Und so dünn. Willst du was essen?«
»Ich hab schon gegessen.« Ich stand unschlüssig da und sah meine Eltern an. »Ich geh auch gleich wieder. Ich bin nur wegen Cashew gekommen. Wenn ihr mir Geld fürs Taxi pumpen könntet ... Ich habe es nicht mehr geschafft, was zu tauschen. Und jetzt sind die Wechselstuben zu.«
»Was soll das heißen, Kir? Willst du nicht mal einen Tee trinken?«, empörte sich meine Mutter. »Du kannst doch auch bei uns schlafen ... Du riechst ja nach Wodka.«
»Es ist alles in Ordnung, Mama«, protestierte ich. »Einen Tee trinke ich natürlich. Aber ich bleibe wirklich nur kurz.«
Meine Mutter ging in die Küche, halblaut etwas vor sich hingrummelnd. Mein Vater betrachtete mich forschend. »Irgendwie hast du dich verändert, Kirill.«
»Stimmt denn was nicht?«
»Irgendwie habe ich den Eindruck, du bist erwachsen geworden.«
»Papa, ich bin schließlich keine zehn mehr! Vielleicht bin ich alt geworden?«
»Deine Augen sind so ernst.« Mein Vater seufzte und nahm mir die Zeitung ab. »Lass uns einen Tee trinken. Da kommst du alle drei Tage mal vorbei ...«
»Alle drei Tage?«, hakte ich nach.
»Na, wann bist du denn nach Charkow gefahren? Vor drei ... nein, vor vier Tagen. Umso schlimmer. Weißt du, wie deine Mutter sich nach dir gesehnt hat ...«
»Vier Tage«, wiederholte ich gedankenversunken. »Im Zug hat die Zeit ihr eigenes Tempo. Es kommt mir so vor, als hätte ich euch seit Ewigkeiten nicht gesehen ...«
Der Tee, frisch aufgebrüht, schmeckte gut. Meine Mutter hat nie Teebeutel im Haus, immer nur losen. Sie behauptet, Beuteltee schmecke nach Papier. Brav trank ich einen Tee und aß von einer viel zu süßen Torte. Cashew legte sich zu meinen Füßen hin, vergrub die Nase in meine Socken, nieste unzufrieden, verzog sich aber nicht.
»Hast du dir in Charkow eine Freundin angelacht?«, fragte mein Vater beiläufig. Dieses Thema hatten die beiden mit Sicherheit diskutiert, nachdem ich - ihrer Ansicht nach - überstürzt aus Moskau abgehauen war und ihnen den Hund aufgehalst hatte.