Während Cashew schlecht gelaunt frühstückte, duschte ich und spülte genussvoll die Reste des Schlafs von mir ab. Das japanische Minzshampoo brachte mich endgültig auf Touren. Anschließend ging ich in die Küche, wo es schon wärmer geworden war, holte mir aus dem Kühlschrank ein inzwischen steinhart gewordenes Stück Salami, säbelte mir ein paar Scheiben ab, aß sie und trank Tee dazu. Kaffee hätte ich jetzt nicht runterbekommen.
Zwanzig vor zwölf schrieb ich meinen Eltern eine kurze Nachricht. Für alle Fälle. Dass mit mir alles in Ordnung sei, ich aber gezwungen gewesen sei wegzufahren und nicht so bald wieder da sein würde. Dann ging ich kurz mit Cashew direkt vor dem Haus Gassi, was mir einen höchst missbilligenden Blick von meiner Nachbarin Galina Romanowa eintrug, die gerade vom Einkaufen zurückkam. Was soll’s? Ich war nun mal ein Schwein ... Der verstimmte Auftritt Cashews, der auf einen langen Spaziergang gehofft hatte, betrübte mich viel stärker.
Nachdem ich ihn in der Wohnung abgeliefert hatte, wurde er plötzlich ganz still und sah mich so traurig an, dass ich noch einmal kehrtmachte, mich neben ihn hockte, ihm die weichen Ohren kraulte und ihm versicherte, er sei der beste Hund der Welt. Und dass ich ganz bestimmt wiederkommen würde. Jedenfalls würde ich mir alle Mühe geben.
Währenddessen nahm ich mir das Messer und steckte es unter die Jacke. Irgendwie hatte ich gar nicht mehr an die Waffe gedacht.
Drei Minuten vor zwölf zwängte ich mich durch das altvertraute Loch im Zaun des Kindergartens und machte mich auf den Weg zum Innenhof. Dafür brauchte ich nur durch einen einzigen Torbogen, der früher mal mit einem Gitter versperrt gewesen war, doch die Saufbrüder der Umgebung hatten es längst aus den Angeln gehoben.
Kotja war noch nicht da.
Gut. Es wäre peinlich gewesen, zu spät zu kommen. Schließlich brauchte ich nur zu Fuß über einen Hof, während er mit Teleportation aus Tibet anrücken musste ...
Ich drehte eine Runde in dem betonierten Hof und setzte mich auf eine winzige Bank. Ich betrachtete die kleine kaputte Schaukel und die niedrige Basketballstange. Der Ring war abgebrochen, auf die Tafel dahinter war eine grässliche Fratze gemalt und geschrieben: Boris ist dohf. Ich fuhr über das h, betrachtete anschließend meinen Finger und grinste. Ein hässlicher Ort für Kinder zum Spielen. Aber gerade recht, um einen zu trinken. In den Ecken lagen kaputte Flaschen herum, zerquetschte Plastikbecher und ganze Lagerstätten bis zum Filter heruntergerauchter Kippen. Ich steckte mir jetzt auch eine an. Die erste Zigarette an diesem Morgen - und sie schmeckte sogar.
Etwas klatschte leise.
Ich drehte mich um und erblickte den mitten im Hof stehenden Kotja.
Er sah ausgesprochen elegant aus.
Eine alte Uniform. Weiße, gebügelte Hosen mit einer Goldlitze an der Naht, eine Art Militärrock, ebenfalls mit Goldlitze, unter dem eine Scheide herauslugte. Auf die Brille hatte er diesmal selbstverständlich verzichtet.
»Rauch ruhig«, sagte Kotja, sobald unsere Blicke sich trafen. »Ich kann warten.«
Ich nickte ihm zu und rauchte rasch zu Ende. Ich drückte die Kippe aus, stand auf, klopfte meine Jeans ab und ging auf Kotja zu. Drei Meter vor ihm blieb ich stehen. »Du siehst höchst eindrucksvoll aus«, bemerkte ich.
»Zunächst möchte ich dir ein paar Ratschläge geben«, begann Kotja. »Erstens: Versuche dich so schnell wie möglich damit abzufinden, dass deine Freunde und deine Familie sterben werden. Wir leben viel länger als sie, selbst wenn du deine Lieben von Ärztefunktionalen behandeln lässt. Zweitens: Alle zehn, zwanzig Jahre nimm dir eine Auszeit. Für ein halbes oder ein ganzes Jahr. Irgendwo auf einem romantischen und altmodischen Planeten. Veros ist dafür ideal ... Übrigens, diese Uniform stammt vom Insel-Stadtstaat Fald, den ich dir sehr empfehle. Drittens: Du kannst nicht die ganze Zeit über du selbst bleiben. Denk dir hin und wieder eine neue Biographie aus, ein neues Schicksal. Versuche sie selbst zu glauben. Sie muss dir in Fleisch und Blut übergehen. So, dass du selbst an sie glaubst. Bei mir hat das geklappt. Ansonsten kriegst du nämlich Flügel, dein Schwert verwächst mit deiner Hand, und du verlierst dein menschliches Aussehen völlig. Viertens: Übe dich in den unterschiedlichsten Waffenarten. Vom Marinedolch bis hin zu ... keine Ahnung, was man sich so alles ausgedacht hat ... bis hin zum Kampflaser.«
»Wozu denn das?«, fragte ich.
»Dazu.«
Kotja selbst bewegte sich überhaupt nicht, nur seine Hand glitt nach unten. Förmlich aus dem Nichts sprang ein spitzer Dolch in sie hinein. Kotja holte aus - und ein silbriger Blitz zuckte pfeifend über meinen Kopf hinweg.
Ich drehte mich um.
Der Griff des Dolchs (eines Offiziersdolchs?) ragte aus dem Auge des fratzenhaften Boris auf dem Basketballschild heraus.
»Ich werde mich nicht mit dir schlagen«, verkündete Kotja. »Ich bin gewiss kein Heiliger. Wenn man hier alle hinlegen würde, die ich irgendwann mal umgebracht habe, wäre für uns beide kein Platz mehr. Aber mit dir werde ich mich nicht schlagen. Schon gar nicht mit Messerchen. Das ist lächerlich. Ich bin mit der festen Absicht hergekommen, dich umzubringen, aber jetzt ... habe ich es mir anders überlegt.«
»Du bist ein Wichtigtuer, Kotja«, bemerkte ich. »Die Farbe auf dem Schild ist noch feucht. Du hast das erst heute da hingeschmiert, in aller Herrgottsfrühe, nach unserem Gespräch. Dann noch das h in ›doof‹, das ist nun wirklich zu viel des Guten.«
Kotja machte eine aufgebrachte Handbewegung. »Und wenn schon! Was geht dich das an? Ich habe doch gesagt: Ich werde mich nicht schlagen. Selbst wenn ich dann meine Funktion verliere, ein normaler Mensch werde und bald verrecke. Mir doch egal!«
Ich holte mein Messer heraus und wog es in der Hand. Dann drehte ich mich um und warf es. Die Klinge durchbohrte das zweite Auge von Boris.
»Aber woher wollen wir eigentlich wissen«, sagte ich, »wie unser Duell ausgegangen wäre? Ich befinde mich in einem ungefestigten Zustand. Ich bin ein wandelndes lokales Chronoklasma, ein Mensch, der aus seiner Welt herausgerissen wurde - nur dass diese Welt sich plötzlich mit aller Kraft an ihn geklammert hat. Sparen wir uns also diese hehren Worte. Übrigens hätte ich dir einen ernsthaften Vorschlag zu machen.«
»Welchen? Willst du mir etwa weismachen, du seist bereit, die Erde zu verlassen? Das würde ich dir nie im Leben abkaufen, Kirill! Und zwar nicht, weil dir unsere Erde so gefällt. Sondern weil du ein Sturkopf bist, der es nicht erträgt, wenn jemand ihn zu etwas zwingt.«
»Lass uns doch mal annehmen, ich würde die Erde nicht verlassen. Aber ich würde auch keinen Anspruch auf deinen Posten erheben. Ich bin im Prozess der Wahl ... und jetzt habe ich meine Entscheidung getroffen.«
Ich zog den Ring von meinem Finger, das letzte Relikt aus meiner Zollstelle. Ich ließ ihn zu Boden fallen.
»Kirill, das ist nur ein Stück Metall, das überhaupt nichts zu bedeuten hat!«
»Das weiß ich. Aber es ist ein Symbol. Ich trenne mich von euch. Ihr geht mir auf die Nerven. Ihr alle: Zöllner, Köche, Polizisten und Kuratoren. Schert euch zum Teufel! Ich bin ein Mensch! Ich habe keine Funktion!«
»Willst du etwa behaupten, du gehst in dein Bit und Bite zurück und versuchst, den Leuten deine Graphikkarten für möglichst teures Geld anzudrehen?«, fragte Kotja ungläubig.
»Nein, vermutlich nicht. Wahrscheinlich haben sie mir sowieso längst gekündigt, weil ich unentschuldigt weggeblieben bin. Ich werde mein Studium wieder aufnehmen.«
»Wozu das?«, wunderte sich Kirill.
»Ich werde Ingenieur, baue mir eine Rakete, verpiss mich damit und sehe zu, dass ich möglichst viel Abstand zwischen mich und euch bringe!«