»Alles klar. Und nachts lädst du Güterzüge aus, damit du deinen Eltern nicht auf der Tasche liegst.«
»So schlimm wird’s schon nicht kommen. Immerhin verstehe ich was von Computern. Ich kann bei einem Provider arbeiten, abends im Serviceteam. Korbin-Telekom findest du in ganz Moskau, da könnte ich bestimmt ...«
»Stopp!« Kotja breitete beschwichtigend die Arme aus. »Halt mal die Luft an, Kirill! Du bist auf hundertachtzig, wir haben beide die Nerven verloren und Panik gekriegt. Natürlich kannst du das alles machen. Du kannst wieder an die Uni gehen, und du kannst per Telefon kluge Ratschläge erteilen: Jetzt öffnen Sie den Ordner mit der Aufschrift ›Verbindungen‹ ... Aber das ist doch alles nichts Halbes und nichts Ganzes! Das wird dich nie im Leben zufrieden stellen! Siehst du das denn nicht ein? Du wirst das Funktional in dir nicht mehr los, früher oder später wirst du dich an den Kopf fassen - und mich suchen. Und du wirst mich finden, weil all deine Fähigkeiten zurückkehren werden! Lass uns der Wahrheit lieber ins Auge sehen! Du bist ein Funktional, daran besteht kein Zweifel! Du hast den Ring abgenommen, ein paar vollmundige Worte von dir gegeben, aber du bist kein normaler Mensch geworden!«
»Anscheinend bleibt mir nur eins übrig«, erwiderte ich. Ich ging zu der Stange für den Basketballkorb rüber und taxierte sie. Sie war nicht sehr tief eingegraben, vielleicht fünfzig Zentimeter, unten saß ein Betonfuß ...
Ich griff fest zu und riss die Stange aus dem Beton.
»Na siehst du«, stellte Kotja triumphierend fest. »Ich habe dir doch gesagt, dass du ...«
Mit der zwei Meter langen Metallröhre über der Schulter (an einem Ende klebte der Zementbrocken, an der anderen das Holzschild mit den Messern) hielt ich auf Kotja zu.
Der wartete geduldig. Offenbar wollte er wirklich keinen Widerstand leisten - und das beunruhigte mich.
Ich riss die Stange hoch und schleuderte sie gegen Kotja.
Im letzten Moment hielt er es nicht mehr aus. Mit einem Sprung brachte er sich vor dem Ding in Sicherheit, machte auf dem Beton eine Rolle und hechtete über die Bank. »Bravo!«, rief er. »So ist es richtig!«
Ich hob die Stange wieder auf. Der Aufprall hatte den Zementbrocken weggesprengt und ein spitzes, verrostetes Ende freigelegt.
Kotja griff nach der Bank. Die war nicht in der Erde verankert. Er riss sie mit ausgestreckten Armen hoch und warf sie nach mir.
Ich parierte mit der Stange. Pah! Ein Bänkchen von einem Kinderspielplatz!
»Jungs! Jungs, was macht ihr denn da!«
Aus den Augenwinkeln sah ich zwei versoffene Penner, die im Torbogen standen. Einer hielt bereits eine angebrochene Flasche in der Hand, der andere eine Zweiliterflasche Fanta. Die Limo brachte mich zum Lachen.
»Jungs, hört auf! Das ist ja schrecklich!«, empörte sich der Typ mit dem Wodka. Der andere schien eine klarere Vorstellung davon zu haben, was Menschen Schreckliches anrichten können und was nicht. Seine Augen weiteten sich, er schaffte es aber, die Fanta nicht fallen zu lassen. Er packte seinen Kumpan am Ellbogen und zog ihn weg.
Kotja stand da und sah mich triumphierend an.
»Entschuldige«, sagte ich. »Uns bleibt nur ein Ausweg ... und ich hoffe, ich täusche mich nicht ...«
Er nickte, den Blick unverwandt auf mich gerichtet.
Ich legte mir die Stange bequem in die Hand - und rammte sie meinem Freund mit einem harten Stoß in den Bauch.
Kotja fasste mit beiden Händen nach der Stange. Das Metall gab ein jämmerliches Stöhnen von sich. Mit bloßen Händen brach er die Stange vorm Bauch ab, als kappe er sie mit einer hydraulischen Schere. Er ließ sich auf den Beton plumpsen und lehnte sich gegen die umgekippte Bank. Ein halber Meter Stange ragte noch aus seinem Bauch heraus.
Ich trat an ihn heran und kniete mich neben ihn.
»Siehst du?«, sagte Kotja. Sein Gesicht war kreidebleich. »Siehst du, wie einfach das ist? Nun ... mach schon ...«
»Das alles ist viel komplizierter«, entgegnete ich. »Aber ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht. Ich will kein Kurator werden. Ich will kein Funktional sein. Geht doch alle zum Teufel.«
Ich griff nach der Stange, zog sie aus Kotja heraus und warf sie weg.
»Ich sterbe gleich«, sagte Kotja bekümmert. »Der Blutverlust, der Schmerzschock ...«
Ich betrachtete das Blut, das auf seiner Uniform eintrocknete.
»Quatsch!«, entgegnete ich. »Du stirbst nicht. Du bist schließlich Kurator. Du bist ein mächtiges Funktional, du verwaltest das Personal in der zivilisierten Welt von Demos ganz hervorragend.«
»Und du?«
»Ich bin einfach nur ein Mensch. Ich habe meine Wahl getroffen, verstehst du? Indem ich dich verletzt, aber nicht umgebracht habe, habe ich meine Wahl getroffen. Und aufgehört, ein Funktional zu sein.«
»Das verstehe ich nicht ...« Kotjas Stimme klang schon etwas kräftiger. Er tastete nach seiner Wunde und verzog das Gesicht. »Scheiße, das tut höllisch weh ... Wenn du wüsstest, wie weh das tut!«
»Ich kann’s mir vorstellen. Keine Sorge, das überstehst du schon. Bis zum Mittagessen ist alles wieder heil.«
»Trotzdem wird dir niemand glauben. Alle werden vermuten, dass du noch ein Funktional bist. Dass sich ... deine Fähigkeiten einfach verborgen haben ...«
»Soll mir recht sein. Dann wird man auf alle Fälle davor zurückschrecken, mich kaltzumachen. Weil in dem Fall nämlich die Gefahr besteht, dass unsere Welt untergeht. Insofern habe ich absolut nichts dagegen, wenn man mir nicht vollends glaubt.«
Kotja suchte eine bequemere Position. »Das heilt schon ...«, teilte er mir sachlich mit. »Und du spürst nichts in dir?«
»Nichts. Absolut nichts.«
Ich streckte die Hand aus und versuchte, die Stange mit den Fingerspitzen anzuheben. Sie rührte sich kein bisschen.
»Wie hast du das fertiggebracht?«
»Jeder Mensch hat sein Schicksal«, antwortete ich. »Ihr verwandelt diejenigen in Funktionale, die das Schicksal der Menschheit ändern können. Es gibt jedoch zahllose Welten. Und irgendwo in einer dieser Welten folgen die Menschen ihrem Schicksal, verändern ihr Leben ... Ich hoffe, nicht nur durch Kriege. Ich hoffe, zum Besseren. Eure Manipulation, die künstliche Existenz der Funktionale, ist zugleich die Quelle eurer Kraft. Wir ... nein, ihr ... ihr seid stark, weil ihr nicht euer Leben lebt. Weil ihr nicht das tut, was ihr tun könntet und müsstet.«
»Und was musst du noch tun?«
»Ich weiß es nicht, ehrlich nicht. Als Erstes werde ich mein Studium wieder aufnehmen. Vielleicht ist es tatsächlich mein Schicksal, Raketen zu bauen?«
»Wir haben dich nicht von der Uni gejagt«, gab Kotja zu bedenken. »Du hast das Studium aus freien Stücken abgebrochen. Ich habe damals nie im Traum daran gedacht, dass du ein Funktional werden könntest, das hast du selbst so gewollt. Erinnerst du dich noch, wie du dich bei mir darüber beklagt hast, dass du es satt hast, zu lernen und zu lernen, nur um dein ganzes Leben lang wie ein Trottel Muttern festzuziehen und Zeichnungen anzufertigen?«
»Kotja!« Ich musste lachen. »Wie kommst du bloß darauf, dass nur ihr Funktionale seid? Dass nur ihr die Schicksale anderer umschreibt? Diejenigen, die durch eure Portale gehen, in euern Restaurants die unglaublichsten Delikatessen verzehren und ihre Partys an den Küsten sauberer Meere feiern - für sie sind wir, du und ich, ein und dasselbe! Sie brauchen keinen Weltraum, sie brauchen keine wissenschaftlichen Entdeckungen, sie brauchen keinen Gottesglauben und nicht das dritte Epos von Homer. Für sie ist es viel wichtiger, dass jemand in einem Geschäft hinterm Ladentisch steht und ihnen Computerzubehör verkauft.«
»In meiner Tasche sind Zigaretten, gib mir die mal«, bat Kotja.
Ich holte eine goldschimmernde Schachtel heraus, entnahm ihr eine Zigarette, zündete sie an und steckte sie Kotja zwischen die Zähne. Seine Hände waren über und über mit Blut beschmiert.
»Nimm dir auch eine«, forderte Kotja mich auf. Dann konnte er jedoch nicht an sich halten und fügte noch hinzu: »Behalt die Schachtel. Mit deinem Stipendium wirst du dir so was nicht leisten können.«