Russland nimmt in diesem Prozess der Alltagsglobalisierung eine ungefährdete Spitzenposition ein. Natürlich ist die Rückkehr des Kwass zu begrüßen, der alle möglichen Arten von Cola zurückgedrängt hat. Inzwischen nehmen auch die Witze über die Filzstiefel ab, dieses für den russischen Winter unverzichtbare Accessoire. Selbst Sarafane, Schirmmützen und Russenhemden kehren dank den Bemühungen der Couturiers in neuem Gewand zurück.
Wenn aber etwas eindeutig zum Souvenir für Touristen mutiert ist, dann der Samowar. Er ist zusammen mit den Großfamilien gestorben, die an einem Tisch zusammenkamen, um gemeinsam zu essen - und zwar in aller Ruhe, ohne Fernseher und ohne in der Mikrowelle zubereitete Halbfertiggerichte. Eine Zeit lang überdauerten die bauchigen Samoware noch als Dekoration auf einer Festtafel, vernickelt oder traditionell bemalt. Zwar wurden sie nur noch an Geburtstagen, zu Neujahr und am Ersten Mai herausgeholt, aber immerhin. Und der beste Tee in Kindertagen war der aus dem Samowar.
Irgendwann machten die bunten Plastik-Teekessel dem Samowar jedoch den Garaus. Es war so viel bequemer, den Kessel aus der Küche zu holen und den Gästen eine Schachtel mit Teebeuteln hinzustellen, als diesen Riesensamowar anzuschleppen und den Tee nach allen Regeln der Kunst aufzubrühen: Warten, bis im heißen Wasser Perlen, zu einem Faden gereiht, aufsteigen, die kleine Porzellankanne ausspülen und den Sud aufgießen. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal an einem Tisch gesessen hatte, auf dem ein Samowar stand. Selbst Wassilissa hatte bei meinem letzten Besuch einen Kessel benutzt.
Heute jedoch stand auf dem Tisch ein Samowar. Ein großer Samowar, mit einem Fassungsvermögen von acht bis zehn Litern. Und so wie er aussah, wurde er häufig gebraucht.
»Och, was für eine Pracht ...«, murmelte ich.
Wassilissas Leidenschaft fürs Teetrinken ließ sich nicht leugnen. In einer Schale lagen Zitronenscheiben, es gab Sahne, Zucker (Streu- und Würfelzucker, weißen und braunen, Rüben- und Rohrzucker), allerlei Gebäck und Waffeln, mit und ohne Schokoüberzug.
»Ich erwarte Gäste«, erklärte Wassilissa leicht verlegen.
»Aus Nirwana?«
»Ja.« Wassilissa nickte in Richtung Fenster, hinter dem die Sonne strahlte und Bäume im sommerlichen Blättergewand grünten. »Ich habe mit den Leuten dort vereinbart, dass sie mir einmal pro Woche ein paar Kinder schicken. Wir trinken zusammen Tee, dann beschäftige ich mich mit ihnen ... Die Schule ersetzt das natürlich nicht, aber trotzdem ...«
Nirwana war die Welt, in der wir uns kennengelernt hatten. Mein Turm und Wassilissas Schmiede standen in ihr dicht beieinander. Es war ein bestechend schöner und erstaunlicher Planet mit mildem Klima und ohne eigene Tierwelt. Die dortige Flora gab eine spezielle Form von Psychedelikum in die Luft ab. Es ließ alle Eindrücke scharf hervortreten und betäubte den eigenen Willen fast ganz. Ein Mensch konnte in dieser Welt zwei Schritt von einem Bach entfernt verdursten, denn er spürte zwar seinen Durst, hatte aber nicht den Wunsch, die kurze Strecke zurückzulegen, und empfand keinerlei Qual. Beinahe wie der faule Kater aus dem Witz, der eine halbe Stunde lang miaute, weil er sich auf - na, sagen wir mal - den Schwanz getreten war.
Funktionalen konnte diese vergiftete Luft Nirwanas natürlich nichts anhaben. Da sie allerdings auch keine weitere Erholungswelt brauchten, nutzten sie Nirwana kurzerhand als Verbannungsort für all jene Menschen, die auf die eine oder andere Art zu einer Gefahr für die Funktionale geworden waren. Das war human - und zuverlässig. Nach einer Adaptionsphase entwickelten die Menschen Fähigkeiten zur Selbstversorgung, manche zeigten sich sogar in der Lage, Fische zu fangen oder Hühner zu halten. Selbst Kinder setzten sie gelegentlich in die Welt. Der alte Freud wäre hochzufrieden gewesen ...
Von außen betrachtet, konnte man die Dörfer der Verbannten für eine riesige Klapsmühle halten, so schlaff, ungeschickt und benebelt wie die Einwohner waren. Aber der Horror der Situation bestand eben darin, dass mit ihrem Verstand alles in Ordnung war. Es fehlte ihnen nur an Willenskraft.
»Und was bringst du ihnen bei?«, fragte ich. »Lesen und schreiben?«
»Das wäre Zeitverschwendung«, antwortete Wassilissa kopfschüttelnd. »Sicher, sie lernen es, aber sie lesen trotzdem nie ein Buch, dazu reicht ihre Motivation nicht aus.«
»Und du bist sicher, dass diese Ausdünstungen nicht in unsere Welt gelangen?«, erkundigte ich mich, während ich mir Tee einschenkte.
»Nun komm schon!« Wassilissa lachte. »Ich bringe ihnen bei, sich die Zähne zu putzen und die Hände zu waschen. Die Hosen auszuziehen, bevor sie ihr Geschäft erledigen. Kratzer zu verbinden. Geschirr abzuwaschen.«
»Aber ob das der richtige Weg ist?«, zweifelte ich.
»Schließlich sind sie nicht debil. Das Problem liegt einzig und allein im Mangel an Motivation. An Willen. Du solltest dich mal an einen Psychologen wenden, vielleicht weiß der Rat. Man muss diesen Kindern nicht beibringen, sich die Hände zu waschen, sondern ihre Ziele zu erreichen. Sich überhaupt erst mal Ziele zu stecken. Ohne das wirst du nichts ändern.«
»Ich denk drüber nach.« Wassilissa musterte mich neugierig. »Vermutlich hast du recht, Kirill. Von außen lässt sich das immer besser beurteilen ... Aber jetzt erzähl mal, was passiert ist. Wieso bist du mit Natalja aneinander geraten?«
Ich zögerte nur kurz. Wenn du dem einzigen Menschen gegenübersitzt, der dir helfen kann, ist es nicht nur unfair, etwas zu verbergen, sondern einfach idiotisch.
Ich erzählte alles.
Unterdessen tranken wir Tee, und Wassilissa fand trotz unseres ernsten Gesprächs immer wieder Gelegenheit, den Samowar anzustellen und darauf zu achten, dass die Tassen nie leer wurden. Vermutlich war das Teetrinken für sie genauso wichtig wie für die Engländer in viktorianischer Zeit.
Ich berichtete von dem Gespräch mit Illan, der Untergrundkämpferin, die früher ein Arztfunktional gewesen war. Von ihrer Freundin Nastja und wie sie Widerstand spielte ... Von Natalja Iwanowa, die diese Spiele gar nicht mochte. Von Kotja, der sich als Kurator unserer Erde herausgestellt hatte. Von Erde-1, also Arkan. Davon, wie ich beinahe umgebracht worden wäre. Und davon, wie ich selbst zum Mörder geworden war.
»Wir sind das Experimentierfeld der Arkaner«, schloss ich. »Sie können aus einfachen Menschen Funktionale machen.«
»Aber weshalb?«, wollte Wassilissa voller Neugier wissen.
»Auf diese Weise regieren sie die einzelnen Welten. Irgendwie kalkulieren sie, auf welchem Weg sie die gewünschten Ergebnisse erzielen. Genau wie in der Science Fiction: Hätte man den Zweiten Weltkrieg vermeiden können, wenn man Hitler schon als kleinen Jungen umgebracht hätte? Wäre das menschlicher gewesen? Sie brauchen dabei nicht mal jemanden zu töten. Sie stoßen den fraglichen Menschen einfach aus dem Leben und verwandeln ihn in ein Funktional, und schon sieht die Welt anders aus. Ein Mensch reicht, um eine ganze Welt auf ein anderes Gleis zu setzen.«
»Im Philosophieunterricht haben wir beigebracht bekommen, dass von einem einzigen Menschen gar nichts abhängt.« Wassilissa lächelte. »Das behauptet jedenfalls der Marxismus-Leninismus ... Aber dieses Fach kennst du ja gar nicht mehr, Kirill.«
»Ich würde dem Marxismus-Leninismus keinen allzu großen Glauben schenken«, meinte ich schnippisch. »Schon gar nicht nach dem Zusammenbruch der UdSSR.«
Wassilissa brach in schallendes Gelächter aus. Genussvoll biss sie die Hälfte eines gefüllten Tuler Honigkuchens ab. »Das tu ich auch nicht, Kirill! Warum sollte ich? Ein Mensch verändert die ganze Welt. Ganz einfach! Aber alles andere ist blanker Unsinn, du musst schon entschuldigen ...«
»Warum?«, murrte ich.