Ich sagte mir, das Mädchen sei nicht wichtig, aber mein Herz widersprach. Dieser eigentlich unbedeutende Vorfall zeigte mir, dass ich nicht Herr meiner selbst war, und das bekümmerte mich sehr. Ich schüttelte den Kopf und versuchte nachzudenken, wollte meine Gedanken auf heitere, unbeschwerte Dinge richten. Doch wie ein Bergsteiger, der sich in den bewaldeten Vorbergen verlaufen hat und plötzlich durch die Wipfel den sonnenbeschienenen Gipfel strahlen sieht, erkannte ich, dass hier eine Wahrheit lag, der ich mich stellen musste.
Lange Zeit saß ich da, zwischen Vernunft und Verlangen hin und her gerissen, sprach mit mir selbst oder richtete laute Vorwürfe an den Mond. Und tatsächlich schien es mir, als gäbe Luna mir zur Antwort: Warum beklagst du dich? Ich habe dir den Weg gezeigt, Drusus. Nun ist es an dir, ihm zu folgen. Beherrsche deine Wünsche, oder sie beherrschen dich. Erst dann wirst du dich selbst kennen. Das ist die Freiheit, die Gott dir gegeben hat. Wenn du es nicht willst, ein anderer kann es nicht.
Ich besann mich darauf, was ich im Innersten wusste: Dass man von einem anderen Menschen nicht Besitz ergreifen darf, sonst stirbt einem in den Händen, wonach man sich sehnt. Die Liebe muss frei sein, oder es ist keine Liebe, sondern etwas Niedrigeres. Und Verlangen, das nicht von Vernunft beherrscht wird, ist wie ein Feuer, das verzehrt und erlischt.
Und so saß ich allein unter der funkelnden Himmelskuppel und versengte meine Seele. Die Zeit verstrich, ohne dass ich es bemerkte. Als ich mich das nächste Mal rührte, war der Mond untergegangen, und das Gras und meine Kleidung waren mit Reif überzogen. Schaudernd stand ich auf und machte mich mit neu gewonnener Ruhe auf den Rückweg über die Felder.
Das Haus lag dunkel vor mir. Das Feuer im Ofen war erloschen. Leise schloss ich die Tür und schlich auf Zehenspitzen zu meinem Bett. Ich zog mich aus und vergrub mich unter dem Haufen Decken. Ich hatte geglaubt, Marcellus schliefe, doch dann hörte ich ihn aus dem anderen Bett flüstern: »Ich habe dich gesucht.«
»Ich bin hier«, sagte ich.
Ich spürte Bewegung und ein Zupfen an meiner Decke. »Du bist ganz kalt«, sagte er leise. »Komm herüber, hier ist Platz für zwei.«
Am Morgen berichtete ich von der sonderbaren Begegnung im Jupitertempel und der Einladung in die Zitadelle.
»Dann sollten wir hingehen«, sagte Marcellus. »Vielleicht kann dieser Soldat tatsächlich etwas für uns tun, wenn er ein Freund von Eutherius ist.«
Ich dachte an den unrasierten, verlegenen, ein wenig seltsamen jungen Mann. »Mag sein, aber rechne nicht damit«, riet ich. »Ich bezweifle, dass er solchen Einfluss hat – außer in seinen Träumen.«
Wir saßen auf der Kante meines Bettes, die Decken um uns gezogen. Marcellus’ Körper war warm, das Zimmer jedoch war bitterkalt, und unser Atem bildete weiße Wölkchen.
Ich bemerkte Marcellus’ raschen Seitenblick. »Und dann ist da noch Clodia«, sagte er langsam.
Ich holte tief Luft und beobachtete ein Rotkehlchen, das neugierig auf dem Fensterbrett saß. Bisher hatten wir über den gestrigen Abend nicht gesprochen. Marcellus drehte den Kopf zu mir und zog unter der Decke die Knie an die Brust. Sie stießen gegen meine und verharrten.
»Drusus«, sagte er, »ich brauche deinen Rat. Du warst bei den Soldaten in London. Ich nehme an, dass du über diese Dinge mehr weißt als ich.« Er zögerte und rieb sich das Gesicht, um sich gleich darauf durch die zerzausten Haare zu fahren. Um seinen Mund zeigten sich Sorgenfalten. Ich sah, dass er ein bisschen rot geworden war. »Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was ich wegen Clodia tun soll.«
Er blickte mir vertrauensvoll ins Gesicht. Ich kam mir grausam und gemein vor und spürte einen Kloß im Hals.
»Sie ist nicht wichtig«, sagte ich. »Es hat keine Bedeutung.«
Er zog die Stirn kraus. »Clodia ist sehr beharrlich.«
Ich schluckte. »Nun, das ist wohl ihre Art.«
Eine Pause entstand. Schließlich öffnete ich den Mund, um Marcellus zu sagen, er könne sich ein Mädchen nehmen, wann immer er wolle, es werde unsere Freundschaft nicht beeinträchtigen. Doch er kam mir zuvor und meinte: »Ich weiß, Drusus, aber darum geht es mir nicht.« Er starrte auf das blinde Fensterglas und seufzte. »Als du gestern Nacht gekommen bist, stritt sie gerade mit mir. Sie beschuldigte mich, du wärst mir wichtiger als sie.«
Ich lachte. »Und? Stimmt das?«
»Das kann man nicht vergleichen. Du weißt, wie das ist. Am Ende, als sie gar nicht mehr aufhörte, habe ich gesagt, sie solle glauben, was sie will. Und da kamst du herein.«
Ich sah ihr Gesicht vor mir, wie sie mich vorwurfsvoll und bissig anblickte. »Sie ist nicht wichtig«, wiederholte ich. »Es waren meine eigenen Dämonen, die ich niederringen musste.«
Unvermittelt sagte Marcellus: »Sie verlangt, dass ich sie heirate.«
»Was?«, rief ich aus und blickte ihn verblüfft an. »Aber warum? Ist sie schwanger?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen. Sie hat es sich genau überlegt. Sie redet von Geschäften und dass wir mein Land und ihres zusammen bewirtschaften sollten. Sie meint, Britannien würde ihr gut gefallen.«
Ich starrte ihn an und fragte mich, was seine Mutter wohl von Clodia halten würde. Ich hätte schallend gelacht, wäre Marcellus nicht so ernst gewesen.
»So, so«, meinte ich schließlich.
»Aber das will ich nicht. Jetzt noch nicht. Ich weiß gar nicht, wie das alles plötzlich gekommen ist, Drusus. Es ist nicht so, als ob … nun ja, sei’s drum. Ich fürchte, ich verstehe die Frauen nicht.«
Ich verstehe diese Frau gut genug, dachte ich, sagte aber laut: »Frauen sind ein Mysterium. Und wir sind noch jung.«
»Ja.« Er nickte. »Aber sie hätte nicht so zu dir sprechen sollen, das habe ich ihr gesagt … Ich liebe dich, Drusus. Wir gehören zusammen. Es ist mir egal, was sie davon hält.«
»Ich werde immer da sein. Das weißt du.« Und dann, mit einem Grinsen, weil mir das alles viel zu ernst gewesen war: »Aber du darfst den Stammhalter nicht vergessen, sonst bin ich am Ende schuld.«
Das war ein alter Scherz zwischen uns. Er lächelte, lachte schließlich und versetzte mir einen Stoß an der Schulter, dass ich in den Berg aus Decken fiel.
Und dann, als hätte ich ihm ein unerwartetes Geschenk gebracht, küsste er mich.
Später überquerten wir die Brücke zur Zitadelle.
Am Tor nannte ich Oribasius’ Name und erwartete, abgewiesen zu werden. Stattdessen straffte der Wächter die Schultern, nannte mich »edler Herr« und rief seinen Vorgesetzten. Ein livrierter Diener führte uns durch den Innenhof mit seinen überdachten Säulengängen, den Buchsbaumhecken und Pflaumenbäumen und dann einen breiten, lichten Gang entlang, dessen Wände mit Garten-und Jagdszenen bemalt waren. Marcellus berührte mich am Arm und murmelte: »Hast du nicht gesagt, dein Freund sei ein Niemand?«
Achselzuckend verzog ich das Gesicht. Ich hatte geglaubt, man werde uns ins Soldatenquartier bringen.
Schließlich gelangten wir in einen hellen Raum mit hohen Fenstern und Kassettendecke. Niemand war da. Bevor der Diener uns allein ließ, sagte er: »Der Cäsar wird sogleich kommen.«
»Augenblick!«, rief ich und wäre ihm beinahe hinterhergerannt. »Wieso Cäsar? Das muss ein Irrtum sein. Ich bin nicht gekommen, um den Cäsar zu sprechen. Er kennt mich gar nicht. Ich möchte zu Oribasius.«
Der Diener musterte mich, als würde ich wirres Zeug faseln. Ehe ich noch etwas sagen konnte, näherten sich Stimmen. Ich überlegte, wie ich dem Vetter des Kaisers meine Anwesenheit erklären sollte. Anstelle eines kaiserlichen Prinzen sah ich jedoch inmitten seines Gefolges denselben Mann, dem ich im Jupitertempel begegnet war.