Der Diakon wusste von dem lodernden Hass, den der Notar für uns hegte. Dem Kapitän jedoch, dem schäbigen Besitzer des schmuddeligen Schiffes, war das gleich, solange er sein Geld bekam. Er inspizierte den Beutel Münzen, den der Diakon ihm reichte, und gab Befehl, uns in den Frachtraum zu bringen. Dort wurden wir sorgfältig angekettet, ganz wie der Diakon es befohlen hatte. Von nun an wurden wir nicht mehr beachtet, bekamen aber auch nichts zu essen oder zu trinken. Wenigstens wurden wir nicht mit den schweren Fesseln über Bord geworfen, wie ich insgeheim befürchtet hatte, denn so etwas gehörte bekanntermaßen zu den Verfahrensweisen des Notars. Doch beruhigend war das keineswegs: Wenn uns das Ertrinken erspart blieb, dann nur, weil der Notar Schlimmeres mit uns vorhatte. Er war im gesamten Reich als Meister der Folter und des langsamen Todes bekannt, und er war stolz darauf.
Von den Barbaren lässt sich selten sagen, dass sie uns Gutes bringen. Das Chaos jedoch, der Feind des geordneten Lebens, ist manchmal auch der Feind der Tyrannen. Als wir in Gallien anlegten, hörten wir als Erstes eine wütende Auseinandersetzung auf dem Kai.
»Was ist denn nun wieder?«, murmelte Marcellus mit grimmigem Blick zu dem verrosteten Gitter über unseren Köpfen. »Ist selbst das Morden schon zu lästig?«
Wir lauschten dem gedämpften Streit. Einmal hörte ich den Kapitän schreien: »Aber das sind die Befehle! Sieh selbst, schau dir das Siegel an!« Eine andere Stimme erwiderte gelangweilt: »Ob Befehl oder nicht, ich kann nicht aus dem Nichts Männer herbeizaubern. Das hätte vorher veranlasst werden müssen.«
Sie stritten weiter. Schließlich polterten Schritte über das Deck, das Gitter flog auf, und das zornrote Gesicht des Kapitäns erschien in der Öffnung.
»Raus!«, befahl er.
Das Schiff hatte an einer langen Kaimauer vor verlassen wirkenden Lagerhäusern festgemacht. Die Türen standen offen; dahinter waren leere Räume zu sehen. An einem Ende des Kais lagen ein paar Fischerboote nebeneinander vertäut, als wären sie nach einem Winter auf dem Trocknen vergessen worden. Ein Stück höher lag eine Stadt, deren Mauern rostrot in der Abendsonne leuchteten.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich und rieb mir die aufgescheuerten Handgelenke.
»Bei Boulogne«, antwortete der Kapitän. »Nicht dass es von Bedeutung für euch wäre.« Dann wandte er sich dem Beamten zu, der uns vom Kai aus anstarrte, fuchtelte mit den Armen und fuhr ihn an: »Na los, weiter! Was glotzt du so? Geh und hol sie!«
Der Mann rümpfte die Nase und stolzierte davon.
»Was geschieht nun?«, fragte Marcellus.
»Das geht mich nichts mehr an. Euer Freund, der Diakon, sagte, dass euch hier eine Abordnung des Notars erwartet. Aber dieser Hohlkopf«, er zeigte mit dem Daumen auf den davonschlurfenden Beamten, »weiß nicht, worum es geht. ›Das hätte veranlasst werden müssen!‹« Er äffte den Tonfall des Beamten nach.
Dieser kam bald mit einer Abteilung Soldaten zurück. Es waren keine Männer aus dem kaiserlichen Heer, sondern gehörten der örtlichen Bürgerwehr an – Halbwüchsige in groben Behelfsuniformen, die sich aber mit ungelenkem Stolz bewegten und deren Waffen – Jagdmesser und sonderbare Schwerter – eingeölt und poliert waren. Auf der windgeschützten Seite eines Lagerhauses wurde die Auseinandersetzung weitergeführt. Ich konnte nicht hören, was gesprochen wurde. Ein-oder zweimal blickte der Anführer, ein junger Hauptmann mit breitem Bauerngesicht, finster zu uns herüber. Aber der Kapitän sah schließlich doch noch zufrieden aus. Er war uns losgeworden. Und nach weiterer kurzer Verhandlung wurden wir durch die gemauerte Einfahrt der Lagerhäuser gezerrt.
Man führte uns durch ein heruntergekommenes Viertel. Einst hatten hier Schiffsausrüster, Böttcher und Segelmacher ihre Waren verkauft; nun waren die Läden geschlossen und vernagelt. Es gab nur noch jene schäbigen, von Schmutz starrenden Schenken, wie man sie in jedem Hafen findet. Aus der Tür einer dieser Kaschemmen rief uns eine hagere Straßenhure an und zeigte Marcellus ihre Brüste, ehe sie unsere gefesselten Hände bemerkte. Kaum hatte sie erkannt, dass an uns nichts zu verdienen war, gab sie die Verstellung auf und spuckte kräftig aus.
»Warum ist es hier so still?«, fragte ich den Hauptmann. »Wo sind die Leute?«
Der Hauptmann blickte finster. »Es gibt keine Arbeit. Sie sind fortgezogen.«
Er hatte ein ehrliches Gesicht und machte auf mich den Eindruck, als wäre er nicht allzu froh über die ihm übertragene Aufgabe. Deshalb fragte ich ihn lächelnd, wie die Stadt überleben könne, wenn Handel und Handwerk am Boden lägen.
Er musterte mich argwöhnisch von der Seite, als rechnete er damit, dass ich ihn zu übertölpeln versuchte. Man hatte ihm zweifellos gesagt, ich sei ein gefährlicher Verbrecher. Aber dann antwortete er achselzuckend: »Wir halten uns über Wasser. Und jetzt sei still.«
In dieser Nacht wurden wir in eine alte Zelle in den Arkaden der Stadtmauer eingeschlossen, wo man sonst gemeine Diebe und anderes Gesindel einsperrte. Das Verlies war triefnass, und es stank wie in einer Latrine. Zuvor jedoch nahm der junge Hauptmann uns die Ketten ab und warf uns von einer Pferdekrippe einen Armvoll frisches Stroh ins Verlies. Am nächsten Morgen brachte er uns Ziegenkäse, in ein Tuch gewickelt, dazu Milch und grobes Gerstenbrot, und wir durften nach draußen und uns an der Pferdetränke waschen.
Während ich mir Wasser ins Gesicht klatschte, schaute ich mich um, verstohlen und vorsichtig, denn der Hauptmann hatte seine Leute angewiesen, uns zu töten, sollten wir eine Flucht versuchen, und so waren die Männer angespannt wie ein Rudel Hunde vor der Jagd. Wir befanden uns auf einem gepflasterten Platz am Stadttor, wo sich ringsum ein Wagenzug versammelte. Ich ging zum Fahrer eines Maultierkarrens und fragte ihn, was los sei.
Der Mann beäugte meine Kleidung – ich trug noch dieselben Sachen wie bei Aquinus’ Bestattung, eine dunkelrote schwere Wolltunika, darüber einen schwarzen Mantel – und erkundigte sich, woher ich käme. Nachdem ich geantwortet hatte, sagte er: »Die Straßen sind für Reisende nicht mehr sicher. Ist das in Britannien anders? Ja? Dann habt ihr Glück. Hier geht niemand mehr allein, wenn es sich vermeiden lässt. Die Barbaren liegen auf der Lauer und picken sich die Unvorsichtigen heraus wie Wölfe die Lämmer, und der Kaiser unternimmt nichts!« Zornig trat er gegen das Rad seines Karrens, als wäre er ihm verhasst. Der Karren war mit derben Töpferwaren beladen, die in Stroh gewickelt waren. »Ich war einst ein reicher Mann«, klagte er. »Ich hatte tausend Morgen Land am Rhein. Jetzt besitze ich nur noch das hier.«
»Was ist dir zugestoßen?«, fragte ich.
»Was mir zugestoßen ist?« Er schaute mich forschend von der Seite an, ob ich ihn verspotten wollte. Nachdem er zu dem Schluss gekommen war, dass ich es ernst meinte, antwortete er: »Ich habe die Geschichte schon hundert Mal erzählt. Die Franken kamen aus den Wäldern über den Strom. Sie brannten mein Haus nieder und nahmen mir mein Land.« Um seine Worte zu unterstreichen, pustete er über seine ausgestreckte Handfläche. »Alles weg, alles, wofür ich geschuftet habe. Jetzt bin ich hier. Wir leben hinter den Stadtmauern wie Gefangene. Meine Frau nimmt schlecht bezahlte Näharbeiten an, und ich muss dieses miese Geschirr verkaufen, das jeden Tisch verschandelt.«
Jemand rief ihn, doch ehe er sich entfernte, sagte er noch: »Meine Frau nennt es Schicksal. Sie nimmt es gelassen hin.«
»Aber du nicht?«
»Ein Mann sollte Herr seines Schicksals sein«, antwortete er. »Wir haben unseren gesamten Besitz verloren. Aber ich habe schon genug geredet. Es gilt als Verrat, so etwas auszusprechen.«
Es war weit nach Sonnenaufgang, als wir aufbrachen.
Ich hatte angenommen, wir seien die einzigen Gefangenen, doch kurz vor dem Aufbruch wurden sechs alte Männer in Ketten aus der Stadt gezerrt. Sie wirkten gebildet und trugen vornehme Kleidung, die im Kerker allerdings arg gelitten hatte. Offenbar waren sie ehrbare, wohlhabende Bürger gewesen, die das Rückgrat einer jeden Provinzstadt bilden – genau jene Männer also, die der Notar so gern in sein Gespinst aus Lügen und Verrat verwickelte, um ihr Vermögen einziehen zu können. Sie starrten in dumpfer Hoffnungslosigkeit zu Boden und taten, was ihnen befohlen wurde.