Ich konnte nicht mit Marcellus reden, weil man uns getrennt hatte, doch ich fing seinen zornigen Blick auf. Wir hatten in Britannien dieselbe Unterdrückung erlebt, hatten den Notar aber schließlich verjagen können. Hier aber trieb er weiter sein Unwesen.
Die alten Männer wurden auf einen offenen Karren verladen, und wir mussten zu ihnen hinaufklettern. Dann befahl der Hauptmann, das Tor zu öffnen.
Von Boulogne zogen wir nach Osten über ebenes, fruchtbares Ackerland. Doch so fruchtbar der Boden auch war, die Felder waren nicht bestellt, sondern mit hohem Gras und jungen Bäumen überwachsen. Und die wenigen Gehöfte und Dörfer, die wir erblickten, wurden von primitiven, in sichtlicher Eile errichteten Palisaden und Befestigungswällen aus derben alten Mauersteinen geschützt, die von uralten Ruinen stammten. Bei unserer Ankunft vor Reims fanden wir die Stadttore geschlossen, und es herrschte kein Verkehr auf der Straße, obwohl helllichter Tag war.
Wir zogen bis ans Tor; dann rief der Hauptmann an der grauen Kragsteinmauer hinauf. Sogleich schauten vom Torhaus Bürger mit Speeren zu uns herunter. Ob wir verrückt seien, in diesen Zeiten zu reisen, wollten sie wissen, nachdem sie erfahren hatten, wer wir waren. Ob der Hauptmann denn nichts davon gehört habe, dass germanische Stämme von jenseits des Rheins eingefallen seien; angeblich sei sogar die Festungsstadt Köln gefallen. Niemand wisse, wie weit und in welcher Zahl die Barbaren vorgedrungen seien, und es gebe kein römisches Heer, das sich ihnen entgegenstellen könne, sodass die Städte Galliens sich selbst verteidigen müssten.
So blieben wir eine Zeit lang in Reims. Niemand schien zu wissen, was zu tun war. Die Tage verstrichen, doch jede Verzögerung, die uns vom Notar fernhielt, war uns willkommen.
Wir wurden im Obergeschoss eines unbewohnten Stadthauses eingesperrt, auf blanken Dielen zwischen bröckelndem Putz; das Fenster gewährte den Blick auf einen morastigen Hof.
Eines frühen Morgens kam der junge Hauptmann mit der Wache und brachte uns Frühstück. Während wir aßen, lehnte er am Türrahmen, und schließlich sprach er mit uns. Er habe Befehl gehabt, uns nach Trier zu überführen, in die Hauptstadt des westlichen Reiches. Doch nun, da die Straßen nicht mehr sicher seien, habe er beschlossen, uns nach Paris zu bringen, wo er uns den Behörden übergeben könne und die Verantwortung für uns los sei.
Der Hauptmann wirkte verlegen, und als er geendet hatte, trat er unruhig von einem Bein aufs andere. Er war ein einfacher Bauernbursche mit widerspenstigem blondem Lockenschopf, der viel lieber Heuschober gebaut hätte; er besaß immerhin den Anstand, sich dafür zu schämen, dass er Männer gefangen hielt, die seine Großväter hätten sein können.
Da ich spürte, dass es ihn zu reden drängte, fragte ich ihn, ob er mit uns essen wolle. Wie vermutet hatte er auf diesen Wink nur gewartet, auch wenn es ihm vielleicht nicht bewusst gewesen war. Er hockte sich zu uns, und einer der alten Männer schob den Gemeinschaftsteller mit Brot und Käse zu ihm hin, wobei er sich beim Hauptmann nach dessen Familie erkundigte.
Sein Vater, erzählte der Hauptmann, bewirtschafte ein Stück Land unweit von Boulogne – man könne die Felder vom höher gelegenen Teil der Stadt aus sehen, wo der alte Tempel stehe. Er sei der Jüngste von drei Brüdern.
»Ich habe auch einen Sohn«, sagte der alte Mann. »Er ist Soldat und dient dem Kaiser an der persischen Grenze. Ich werde ihn wohl nicht wiedersehen.«
Der Hauptmann stutzte und schaute ihn an. »Das tut mir leid«, sagte er kauend. »Ich verstehe nicht, warum es auf der Welt so zugeht.« Er verfiel in Schweigen und kaute, die Stirn gefurcht. Nach einer Weile sagte er: »Es gibt ein Bad in der Nähe. Wenn ich euch dorthin bringe … versprecht ihr, nicht zu fliehen?«
»Fliehen?«, sagte ein anderer mit bitterem Lachen. »Wohin denn? Wir sind zu alt für eine Flucht. Wir haben kein Geld, und wir sind bereits halb tot. Ich will nicht das letzte bisschen Würde verlieren, das mir geblieben ist.«
So bekamen wir – eine Reihe Nackter – unser erstes anständiges Bad seit vielen Tagen: die unglücklichen alten Männer, der Hauptmann, Marcellus und ich.
Wir fingen ein Gespräch an, wie es zu solchen Gelegenheiten üblich ist, und kamen bald auf die Barbaren zu sprechen.
»Manchmal vergehen Wochen, ohne dass man sie sieht«, sagte der Hauptmann kopfschüttelnd. »Und dann, wenn man sich sicher glaubt, schlagen sie zu.« Er zog den Finger an der Kehle entlang. Er wusste von ganzen Familien – Vater, Mutter, Kinder, Großeltern –, die in Stücke geschnitten auf ihrem Hof gelegen hatten, obwohl sie ebenso gut hätten verschont werden können. Auf einem Gehöft hatte er zwei Kinder gefunden, einen Knaben und ein Mädchen, die hinter der Getreidescheune an einem Baum aufgehängt waren. »Das Mädchen«, erzählte er finster, »war nackt. Sie war erst sechs Jahre alt. Mein Bruder kannte die Familie.«
»Bist du deshalb dem städtischen Regiment beigetreten?«, fragte einer der alten Männer.
Der Hauptmann zögerte einen Moment, ehe er antwortete: »Ich wollte helfen, die Bürger zu schützen.«
Die alten Männer blickten einander an. Es schien grausam, dem Hauptmann die naheliegende Frage zu stellen, weshalb er hilflose Bürger fern der Heimat bewachte, anstatt sein Gehöft und seine Familie zu schützen. Vermutlich dachte der Hauptmann dasselbe, denn er sagte prompt: »Ich versuche meine Pflicht zu erfüllen. Was soll ich sonst tun?«
Ich fragte ihn, was sich in Gallien zuletzt ereignet habe. Er berichtete, der Kaiser habe im vergangenen Jahr einen Feldherrn mit einem Heer geschickt, damit er die Dinge in Ordnung brächte; stattdessen habe der Feldherr sich zum Augustus ausgerufen. Daraufhin schickte der Kaiser einen anderen Heerführer, um den selbsternannten Augustus abzusetzen. Dann wurde der Präfekt bei einer Verschwörung ertappt und an den Hof zurückbeordert. »Da wundert es wenig«, sagte der Hauptmann und trat mit dem nackten Fuß ins Wasser, »wenn die germanischen Stämme über Gallien herfallen.«
»Und was wurde aus Paulus, dem Notar?«, fragte einer der alten Männer.
Der Hauptmann verzog das Gesicht und warf einen raschen, misstrauischen Blick durch den von Dampf erfüllten Raum. Schmale Streifen winterlichen Sonnenscheins fielen durch die Fenster unterhalb des Kuppeldaches. Es waren keine Fremden zugegen; trotzdem senkte er die Stimme, als er schließlich antwortete. Der Notar, sagte er, sollte in Trier sein, im Palast des Kaisers, wo er sich während seiner Verhöre niedergelassen hatte. Der Hauptmann zögerte erneut; dann fügte er hinzu: »Aber einer meiner Männer hat von einem Schankwirt hier in Reims gehört, dass der Notar geflüchtet ist, als die Germanen Köln einnahmen.«
»Wohin?«
Der Hauptmann zuckte die Achseln. »Wer kann das wissen? Gallien ist wie ein angestochenes Wespennest, in dem es nur so wimmelt.«
Wir tauschten verstohlene Blicke. Marcellus fragte: »Wer ist denn dann in Paris?«
»Der Vetter des Kaisers ist angeblich unterwegs dorthin. Der Kaiser hat ihn zum Cäsar ernannt und nach Gallien geschickt, damit er uns rettet.«
»Was denn – etwa Julian?«, rief der alte Mann neben Marcellus. »Fällt dem Kaiser nichts Besseres ein? Julian ist kaum mehr als ein Knabe. Ein Soldat ist er ganz gewiss nicht!«
»So sagen die Leute. Aber man hört, dass er in letzter Zeit alle in Erstaunen versetzt. Er hat die Barbaren im Süden besiegt und marschiert jetzt nach Norden. Es heißt, er sei ein ehrlicher Mann.«
»Dann ist er so selten wie ein Schmetterling im Winter«, schloss der Alte bitter.