So kam es, dass ich in meinem einundzwanzigsten Winter nach Paris gelangte – eine kleine Stadt, von der ich nie zuvor gehört hatte –, weil Köln gefallen und die Barbaren über den Rhein vorgedrungen waren.
Dies sollte mein Leben für immer verändern.
Es hatte den ganzen Tag geregnet, in grauen böigen Schlieren, die der Westwind vor sich hertrieb. Als wir uns der Stadt näherten, brachen die Wolken auf, und der Himmel entflammte in einem Sonnenuntergang, der sich auf dem Fluss und den nassen Ziegeldächern der Stadt spiegelte. Paris war unbefestigt – die erste Stadt in Gallien, die ich ohne Mauer sah –, doch in der Flussmitte auf einer bootsförmigen Insel stand eine gedrungene, offenbar uralte Zitadelle mit fleckigen Mauern im Abendschein.
Als wir in das tiefe Tal hinunterritten, gabelte sich die Straße. Die östliche Abzweigung führte zu einem Kastell auf dem Hügel, die andere, die wir nahmen, nach Süden zu der Brücke und zur Inselzitadelle.
Bis wir im Innenhof ankamen, brannten bereits die Kohlenpfannen. Wir wurden in einen hohen Gewölbesaal gebracht, der in eiserne Gitterpferche unterteilt war, wie für Schafe oder Rinder. Dort warteten wir, während ein gelangweilt wirkender Schreiber die Einzelheiten des Haftbefehls auf eine Wachstafel schrieb und uns einzeln zu sich rief.
Als ich an die Reihe kam, beäugte er mich, las erneut den Haftbefehl und winkte dann Marcellus von hinten heran.
»Wartet dort drüben!«, befahl er und schickte uns zur Seite.
Von dort beobachteten wir, wie sich ein steter Strom von Beamten in langen dunklen Tuniken mit Schriftrollen und Wachstafeln unter dem Arm voranbewegte; die Männer waren in eifrige Gespräche vertieft oder blickten starr vor sich hin. Alle wirkten beschäftigt; keiner hatte ein Auge für die Gefangenen und Klienten, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen.
»So viel Eifer, und trotzdem brennt die Provinz«, bemerkte Marcellus, der für Verwaltungsbeamte nichts übrig hatte.
Irgendwann trat ein adretter junger Mann in grün-roter Livree auf uns zu und bat uns, ihm zu folgen. Er trug einen breiten braunen, silberbeschlagenen Ledergürtel, ein edles, prächtiges Stück. Doch mir fiel auf, dass der Mann unbewaffnet war.
Er schien sehr von sich überzeugt, beinahe hochmütig zu sein, benahm sich aber recht höflich. Er führte uns aus dem Saal über einen der vielen Gänge und schließlich eine alte Steintreppe hinauf, deren Stufen von Generationen ausgetreten waren. Wir stiegen an schmalen Fenstern mit schrägen Laibungen vorbei, durch die man über den Fluss und das Land blicken konnte, und gelangten auf einen hoch ummauerten Hof im oberen Teil der Zitadelle.
In der Mitte stand eine große alte Zeder, die zwischen den Steinplatten Wurzeln geschlagen hatte; schwarz hob sie sich vor dem dunkler werdenden Abendhimmel ab. An einer Seite des Hofes folgte unterhalb der Brüstung ein hölzerner Wehrgang dem Verlauf der Außenmauer. Hier und da waren Fensterschlitze zu sehen, hinter denen aber keine Lampen brannten; auch waren keine Stimmen zu hören, nur das Rauschen des Flusses unterhalb der Mauer und das empörte Zwitschern eines Nachtvogels in den Zweigen der Zeder.
»Hier entlang«, sagte der junge Mann.
Kurz darauf blieb er vor einer eisenbeschlagenen Tür stehen, drückte auf die Klinke, bedeutete uns, einzutreten und erklärte, dass bald jemand zu uns käme.
Dann ließ er uns allein.
Seltsam, dachte ich und sah mich stirnrunzelnd um. Das Zimmer war lang, weiß getüncht und schmucklos und besaß ein schmales Fenster mit Mittelpfosten. Jemand hatte eine Lampe für uns angezündet. Sie brannte flackernd in einer Wandnische. Es gab zwei Betten mit sauberen Laken und Kopfpolstern; an einer Wand standen ein Tisch und ein Waschtisch.
Ich wollte dazu gerade eine Bemerkung zu Marcellus machen, denn nach meiner Erfahrung gab es keine Gefängniszellen, die so möbliert waren. Doch ehe ich etwas sagen konnte, rief er mir vom Fenster aus zu: »Komm einmal her, Drusus, und sieh dir das an!«
Er hatte den Fensterladen geöffnet und betastete den Mittelpfosten. »Hier sind keine Gitterstäbe. Es ist schmal, aber wir könnten durchpassen.«
Ich trat neben ihn. »Ja, gut möglich«, sagte ich und klopfte gegen die Steinstrebe. Dann hielt ich stirnrunzelnd inne, als mir klar wurde, was mich so verwunderte. »Sag mal, hast du hier irgendwo Schlüssel oder Schlösser gesehen, Marcellus?«, rief ich aus. »Hast du Wächter einen Riegel vorschieben hören?«
Er sah mich an, doch ich eilte bereits an ihm vorbei zur Tür und drückte die schwere schmiedeeiserne Klinke. Die Tür schwang auf.
Ich spähte über den dunklen Hof. Marcellus, der neben mich getreten war, tat es mir gleich.
»Das verstehe ich nicht«, sagte er, »es sei denn …«
Ehe er den Satz zu Ende bringen konnte, fasste ich ihn am Arm und bedeutete ihm, still zu sein. Gegenüber hatte sich eine Tür geöffnet, in der sich jemand im Gegenlicht zeigte. Wir zogen uns zurück und schlossen leise unsere Tür. Bald erklangen draußen Schritte auf dem Pflaster. Jemand klopfte an; dann bewegte sich die Klinke, und zwei Diener kamen herein, jeder mit einem Armvoll Handtüchern, obenauf eine ordentlich gefaltete Tunika.
»Ich bitte um Verzeihung, dass wir euch haben warten lassen«, sagte einer. »Ihr müsst von der Reise müde sein. Gewiss wollt ihr euch waschen und umkleiden. Ich habe nach warmem Wasser geschickt. Es wird gleich gebracht.«
Ich schaute ihn verblüfft an. Nach einer höflichen Pause ging er an mir vorbei und legte die Handtücher auf den Waschtisch, während sein Begleiter die Tuniken auseinanderfaltete und aufs Bett legte. Sie waren aus feinem weißem Leinen und mit einer grünen Wasserblattbordüre bestickt.
Als der Mann meinen Blick sah, meinte er bedauernd: »Ich weiß, Herr, und bitte um Verzeihung. Ich konnte so schnell nichts Besseres finden. Wenn du für heute damit vorliebnehmen willst, werde ich bis morgen etwas Passenderes finden.«
Ich starrte zuerst auf die Tuniken, dann auf den Mann. Er lächelte und räusperte sich höflich. Offenbar hielt er mich für einfältig.
»Mein Herr Eutherius bittet um Verzeihung, dass er euch noch nicht selbst begrüßen konnte«, fuhr er fort. »Doch er hofft, dass ihr später mit ihm zu Abend esst.«
Ich blickte ihn nur an, aber Marcellus blieb nicht stumm. »Mit Vergnügen«, sagte er im liebenswürdigsten Tonfall.
Wie gut, dass er da war. Ich hätte wahrscheinlich kein Wort herausgebracht.
In meinen zwanzig Lebensjahren hatte ich schon einiges erlebt, aber nichts hatte mich auf Eutherius vorbereitet.
Wir hatten uns entkleidet und gewaschen und die feinen neuen Sachen angelegt, die man uns gebracht hatte. Später kam der Diener zurück, um uns durch die Zitadelle zu eskortieren, über düstere Gänge, durch Gewölbesäle und Steintreppen hinunter, bis wir in einen Teil der weitläufigen Festung gelangten, die eher wie die Residenz eines reichen Mannes aussah.
Schließlich wurden wir in einen Raum geführt, den ich für das Privatgemach einer vornehmen Dame hielt. Er war mit Seidenvorhängen in Zinnoberrot und Rosa ausgeschmückt. Silberne Lampen in Form von Schwänen brannten an Ketten, die an einem schmiedeeisernen Ständer aufgehängt waren. An einer Seite standen drei gepolsterte Liegen um einen niedrigen Tisch, darauf Feigen und süßes Gebäck in grünen Glasschalen und kleine gekochte, mit Kräutern garnierte Eier.
»Bitte sehr«, sagte der Diener und bat uns mit höflicher Geste, Platz zu nehmen. Sein Herr Eutherius werde gleich zu uns kommen.
Wir setzten uns, und der Diener entfernte sich. So warteten wir allein und unbewacht, betrachteten den Vorhangschmuck und die Glasschalen und blickten uns erstaunt an.
Nach einer Weile waren draußen Stimmen zu hören. Die Flügeltür wurde geöffnet, und ein großer Mann mittleren Alters eilte zu uns herein.
»Verzeiht!«, rief er und breitete in einer bittenden Geste seine dicken, fleischigen Hände aus. »Ihr müsst mich für unhöflich halten, weil ich euch so lange habe warten lassen.«