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Wir gingen weiter und wagten kaum, uns umzudrehen. Doch bei einem Blick über die Schulter sah ich, dass uns niemand folgte.

Ich atmete erleichtert aus, ohne dass mir bewusst gewesen wäre, den Atem angehalten zu haben. Nach wochenlanger Gefangenschaft, schlaflosen Nächten auf stinkendem Stroh und Tagen voll zermürbender Furcht vor einem plötzlichen, gewaltsamen Tod schienen wir tatsächlich frei zu sein, wie unser fremder Gastgeber es versprochen hatte. Beinahe schämte ich mich, an seinen Worten gezweifelt zu haben. Marcellus jedoch sagte: »Wir mussten uns vergewissern, Drusus. Reden und Tun stimmen oft nicht überein.«

Wir konnten uns ungehindert bewegen. Die Insel mit der Zitadelle ist der älteste Teil von Paris, um den sich die Stadt nach Süden hin ausbreitet. Rings um die Mauern der Zitadelle gab es enge Straßen und schattige, mit Eisengittern versperrte Höfe, und am Flussufer auf der Ostseite der Insel stand etwas erhöht ein alter Tempel. Auf den stießen wir an jenem ersten Tag. Als wir uns näherten, schaute ich zum Giebel hinauf. Dort stand in Bronzelettern, wem er geweiht war: IOVIOPTIMOMAXIMO.

»Der Tempel des Jupiter«, sagte Marcellus, der ebenfalls auf den von Grünspan überzogenen Schriftzug blickte.

Wir stiegen die Marmortreppe hinauf und schlenderten an den mit Akanthuslaub verzierten Säulen entlang, blieben am Rand stehen und schauten auf das rasch dahinfließende Wasser.

»Was hältst du davon?«, fragte Marcellus und kehrte damit zu der Frage zurück, die wir den ganzen Morgen erörtert hatten: Sollten wir bleiben oder abreisen?

Ich beobachtete ein Paar Teichhühner, die übers Wasser flitzten, untertauchten, wie Korken zurück an die Oberfläche hüpften und sich schüttelten.

»Da ist immer noch der Notar«, gab ich zu bedenken.

Jedes Mal gelangten wir an diesen Punkt.

Marcellus nickte. »Ja. Und ich dachte, wir wären ihn los.« Er klang düster und zornig.

»Ich auch. Aber jetzt wissen wir es besser.«

Ich dachte an den Tag zurück, wo ich den furchteinflößenden Mann mit der steinernen Miene als Gefangenen in London auf ein Schiff gebracht hatte, damit er sich für seine Verbrechen vor dem Kaiser verantwortete. Er hatte die Provinz Britannien mit seinen Verratsanklagen entzweit. Sich selbst stellte er dabei über das Gesetz, wie alle schwarz gekleideten Geheimagenten des Kaisers es taten. Marcellus, sein Großvater Aquinus und ich waren ihm schließlich entgegengetreten und hatten dafür gesorgt, dass er aus dem Land gejagt wurde. An jenem Tag am Kai von London hatte er mit einer Stimme, bei der mir das Herz gefror, zu mir gesagt, ich solle hoffen, ihn nie wiederzusehen. Und jetzt war er frei und wieder zu Macht und Einfluss gelangt. So also ist es um die kaiserliche Gerechtigkeit bestellt, dachte ich.

Ich löste den Blick von dem wirbelnden Wasser und schaute in Marcellus’ Gesicht; dann deutete ich nach Süden auf die hügelige grüne Landschaft mit den kahlen Obstbäumen, alten Einfriedungen und schwarzen Weinstöcken an den Hängen. »Er mag von Trier geflohen sein, aber er ist auf freiem Fuß, und der Kaiser hat ihm seine Verbrechen vergeben, oder sie sind ihm gleichgültig.«

Marcellus ballte ein paarmal die Faust, dass die Sehnen am Handgelenk hervortraten. Dann fuhr er sich mit den Fingern durch seinen dichten Schopf, wie er es immer unbewusst tat, wenn ihn etwas beunruhigte. Seine Haare zeigten das schimmernde Braun alter Bronze, das sie jeden Winter bekamen.

»Ich will nicht wie ein Tier im Käfig leben.«

Ich nickte. »Ich weiß.« Das war einer seiner Charakterzüge und einer der Gründe, weshalb ich ihn liebte.

»Wenn wir heimreisen, Drusus, werden wir nie ruhig leben. Wir werden nie wissen, ob er uns holen kommt, er und seine Spitzel und dieser Faustus, der wie ein Dieb im Schatten lauert und darauf wartet, dass unsere Wachsamkeit nachlässt. Er hasst uns zu sehr, als dass er vergisst. Bei jedem fremden Besucher, bei jedem Geräusch in dunkler Nacht …« Er stockte und zog die Brauen zusammen. »Ich frage mich, was Großvater getan hätte.«

Diese Überlegung hatte ich auch schon angestellt. Aquinus war seiner Ehre treu geblieben und hatte getan, was einem edlen Mann geziemt. Nun war er tot, doch sein Vorbild stand uns im Gedächtnis. Er hatte sich nicht bezwingen lassen, weder körperlich noch geistig.

»Dann müssen wir die Sache weiterverfolgen bis zu ihrem Ende, wo immer es uns hinführt.«

Marcellus nickte bedächtig und schaute den Fluss hinunter.

Es war ein grauer Tag gewesen. Doch jetzt kam doch noch die Sonne durch und breitete ein Band aus Purpur und leuchtendem Orange über das regendurchweichte Land.

»Eutherius hat etwas an sich, das mir gefällt«, bemerkte er nach einer Weile. »Er mag sich kleiden wie ein Pfau und sich mit Parfüm tränken, aber er ist kein Dummkopf. Ich vertraue ihm. Du nicht auch? Wenn er so viel von diesem neuen Cäsar hält, sollten wir vielleicht warten und uns ein eigenes Urteil bilden.«

Trauer kann viele Gesichter haben, wie ich in der darauffolgenden Zeit erfuhr.

Manche Menschen weinen und raufen sich die Haare aus; dann ist der Schmerz so schnell vorbei wie ein Sommergewitter. Es ist die Trauer, wie wir sie im Theater sehen: große Gebärden und viel Lärm, damit die Leute gebannt zuschauen. Doch selbst junge Menschen wissen, dass es noch eine andere Art der Trauer gibt. Sie sitzt im Herzen und schwelt dort unbemerkt wie ein mit Sand bedecktes Lagerfeuer.

Marcellus hatte seinen Großvater sehr geliebt. Da sein Vater in jungen Jahren gestorben war, hatte Aquinus ihn zu dem Mann erzogen, der er war, und durch sein Beispiel jeden guten, frommen und edlen Zug an ihm geformt. Nachdem die letzte kurze Krankheit Aquinus’ Tod herbeigeführt hatte, hatte Marcellus sich gezwungenermaßen auf seine Pflicht besonnen. Doch er dachte viel an Aquinus, an seine kühle Mutter, an das Gut, die Knechte, den ganzen Haushalt. Alle blickten nun auf ihn, Marcellus, und legten die Bürde ihrer Bedürfnisse auf seine Schultern. Und er trug sie, weil es seine Natur war, so wie Atlas die Welt trägt.

Er war einundzwanzig Jahre alt. Wir hatten gemeinsam gekämpft und uns geliebt, und als ich sah, dass er keinen Anstoß nahm, schaute ich nicht tiefer. Ich sah nicht, was es ihn kostete. Aber jetzt nahm ich eine Veränderung wahr, das erste Aufzüngeln des verborgenen Feuers.

Wie immer, wenn wir mit anderen zusammen waren, legte er eine tadellose Höflichkeit an den Tag. Sie war ihm anerzogen worden; gute Manieren waren ihm so selbstverständlich wie das Atmen. Aber wenn wir allein waren, ertappte ich ihn manchmal, wie er in melancholische Gedanken vertieft in die Lampenflamme oder zum leeren Horizont starrte.

Er war zu großmütig, um mich damit zu belasten; doch ich spürte seine Traurigkeit. Wenn ich dann manchmal in seine Träumerei einbrach, blickte er auf und sagte lächelnd etwas Unbeschwertes, worauf er eine Zeit lang die trübe Stimmung abzuschütteln schien. Doch später holte sie ihn jedes Mal wieder ein.

In der Nähe des Pariser Forums, auf der Südseite des Flusses, hatten wir die Bäder der Stadt und die Palästra ausfindig gemacht, wo die Athleten auf Rasenflächen und in Kolonnadenhöfen übten. Dort vertrieben wir uns die Wartezeit bis zur Ankunft Julians und stählten unsere Körper. Ich hatte noch nie erlebt, dass Marcellus in irgendeiner Sache gescheitert wäre; deshalb nahm ich an, er war sich bewusst, auf was er sich einließ, als er sich Ringern zum Zweikampf stellte, die viel stärker waren als er und deren Leben nur aus Kampf bestand.

Seine Niederlage war jedes Mal vernichtend. Dennoch forderte er sie immer wieder aufs Neue heraus und saß hinterher in grimmigem Schweigen da, während ich seine Schrammen behandelte. Nie jammerte oder klagte er; stets behielt er seine Schmerzen mit zornigem Eigensinn für sich. Vielleicht wirkte die körperliche Gewalt reinigend auf ihn. Wie auch immer, er sprach mit mir nicht darüber.

Nur ab und zu bröckelte seine Maske der Gleichmut, und er wurde wegen irgendeiner Kleinigkeit wütend – ein zerrissener Schnürsenkel, ein Lampendocht, der nicht brennen wollte, oder ein nicht auffindbares Kleidungsstück genügten schon. Manchmal hörte ich ihn nachts im Schlaf stöhnen und sich hin und her wälzen, bis er unvermittelt hochschreckte. Dann sprach ich ihn im Dunkeln an, worauf er nackt zu meinem Bett herüberkam, unter meine Decke kroch und wortlos einschlief.