Schließlich wurde ich von dem Lastpferd abgeladen. Sie banden mir die Füße mit Lederriemen zusammen. Da hat mich wohl jemand als gefährlich eingestuft, dachte ich mit grimmiger Befriedigung und fragte mich, ob sie mich auch knebeln würden. Aber das taten sie nicht.
Nachdem meine Bewacher zufrieden waren, sollte ich zum Pavillon gebracht werden.
Die ganze Zeit hatte Rufus unruhig dabeigestanden und auf der Unterlippe gekaut. Jetzt wurde er von dem Anführer des Trupps scharf angefahren: »Du kommst mit!«
Beinahe wäre er zurückgewichen. »Ich? Aber warum?«
»Weil er es verlangt«, antwortete der Mann schroff. Alle wussten, was Rufus getan hatte, und kein Soldat hat etwas für Verräter übrig.
Dann gingen wir auf den Pavillon zu: Rufus, der sich unbehaglich umschaute, und ich, gefesselt wie ein Tier und mit einer Schwertspitze im Rücken. Der dunkle Eingang kam mir vor wie der Schlund der Hölle. Es war ein kalter, klarer Tag. Drinnen, zwischen dem dicken Leder der Zeltbahnen, war es düster. In einer Ecke glühten Kohlen in einem Eisenkorb. Es gab einen aufgebockten Tisch und einen Stuhl. Auf diesem Stuhl saß der Notar, reglos wie eine Katze.
Er saß halb vom Eingang abgewandt. Zwischen seinen langen Fingern hielt er einen Griffel. Die Zeltwache hatte uns angekündigt, doch der Notar setzte einen Augenblick lang seine Arbeit an dem Dokument fort, das vor ihm lag. Dann legte er den Griffel mit pedantischer Sorgfalt in einen Ständer aus geschnitztem Elfenbein, schob langsam den Stuhl zurück und erhob sich.
Er musterte mich von oben bis unten, besonders die Schnüre und Lederriemen. Paulus trug eine eng anliegende Filzkappe zum Schutz gegen die Kälte und ein langes, weites Gewand aus schwarzer Wolle. Zwar zeigte er kein triumphierendes Lächeln; dennoch sah ich die Genugtuung in seinem grauen Gesicht.
Sein Blick schwenkte zu Rufus, und ich fühlte, wie er neben mir erschrak. Offensichtlich hatte er mit dem Notar noch nicht persönlich zu tun gehabt.
»Wo ist der andere?«, fragte Paulus.
Rufus schluckte hörbar.
»Es war zu schwierig, sie beide zu schnappen«, antwortete er in flehendem Ton, machte einen Schritt auf Paulus zu und breitete die Hände aus wie ein Bittsteller. »Aber das ist der, den du am dringendsten wolltest … der Mann sagte, dieser sei der Wichtige.«
Der Notar blickte ihn kalt und abschätzend an, sah seine Schwäche und seine Angst. Das Schweigen zerrte an Rufus’ Nerven. Er setzte zum Sprechen an. »Aber ich …«
Scharf wie eine Peitsche schnitt der Notar ihm das Wort ab. »Ich habe beide verlangt, doch du bringst mir nur einen! Nun wird der eine genügen müssen. Geh jetzt! Verlass das Lager. Draußen wird man dir Gold geben, oder was immer du willst.«
Er wartete, bis Rufus davongeeilt war. Dann drehte er sich um. Mit seltsam präzisen Schritten ging er zu dem Feuerkorb mit den glühenden Kohlen. Die Hitze hatte auch das Eisen zum Glühen gebracht.
Kurz hielt er inne und schien sich die Hände zu wärmen. Dann zog er aus der unteren Hälfte des Korbes, wo die Glut am heißesten war, bedächtig eine Eisenstange heraus und hielt sie in die Höhe. Am einen Ende war sie gebogen wie das Hufmesser des Beschlagmeisters, am anderen Ende befand sich ein abgeschirmter Griff, sodass der Benutzer sich selbst nicht versengte.
»Hast du gedacht, ich würde es vergessen?«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Ich vergesse nichts und niemanden. Meine Feinde entkommen mir nicht.«
»Ich hatte Besseres im Kopf.«
»Ach ja, deinen Philosophensohn«, meinte er amüsiert. »Julian. Auch so ein junger Dummkopf, der bald vernichtet wird.«
Er drehte das Werkzeug hin und her und betrachtete es eingehend wie ein Edelsteinschleifer einen kostbaren Stein.
»Ich spüre deine Angst«, sagte er mit seiner geschmeidigen Stimme. »Ich kann sie riechen.«
»Du bist ein Ungeheuer.«
»Ich bin ein Künstler. Und ich bin mächtig. Weißt du, warum? Aber nein, wie solltest du? Du verstehst die Gründe der Macht ja gar nicht. Ich bin mächtig, weil die Mächtigen mich brauchen. Ich bin notwendig. Die Schwachen und Wählerischen wenden den Blick ab. Das ist meine Stärke. Ich bin stark, wo sie nicht hinzuschauen wagen.«
»Und das hat dich zu dem gemacht, was du bist«, erwiderte ich. »Es bereitet dir Lust, und hinterher suchst du nach Worten, um diese Lust zu rechtfertigen. Du bist verdorben. Kein Mensch kann tun, was du tust, ohne dass sein Verstand leidet. Nur Tyrannen brauchen Kreaturen wie dich.«
Vermutlich hatte er erwartet, dass ich um mein Leben flehe, und bestimmt gab ihm selten eines seiner Opfer Widerworte; ich konnte es an seinem Gesicht erkennen. Die Züge um seinen Mund hatten sich verhärtet. Kurz blieb er still; dann riss er mit einer plötzlichen Drehung die glühende Eisenstange hoch und schlug sie mir auf den Oberarm.
Ich schrie auf. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte ich: »Willst du damit dir oder mir etwas beweisen?«
»Wie simpel du denkst«, murmelte er. »Ich habe schon viel Stärkere als dich erniedrigt. Glaubst du wirklich, du kannst mir mit deiner aufgesetzten Tapferkeit widerstehen? Ich werde dir deine Würde Schicht um Schicht abziehen, wie eine Haut, und du wirst um den Tod flehen, lange bevor ich mit meiner Arbeit fertig bin. Du ahnst nicht, wie langsam die Zeit vergehen kann.«
Mein Mund war trocken. Ich schluckte. Er beobachtete es lächelnd.
»Dann fang an«, sagte ich.
»Oh ja, das werde ich, aber nicht hier.« Er legte die Eisenstange weg. »Es gibt dringende Angelegenheiten. Wir werden bis Konstantinopel warten, wo ich meine Werkstatt habe. Dort sollst du das ganze Ausmaß meiner Kunst erleben … Wachen, bringt ihn hinaus!«
Ich wurde in einen Käfig auf Rädern gesteckt und angekettet wie ein wildes Tier. Als klar war, dass ich nicht hier und jetzt getötet werden sollte, warf mir einer seiner Henkersknechte eine alte Decke zu und gab mir einen Teller Bohnensuppe.
Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang brachen wir auf und zogen in die Ebene Thrakiens hinunter, die Soldaten im Sattel und der Notar in einem geschlossenen Wagen. Rufus sah ich nirgends.
Wir kamen nach Philippopolis und verbrachten die Nacht in einer Kaserne am Stadtrand. Die Kaserne war so gut wie leer; vermutlich war dies in ganz Thrakien so, bis nach Konstantinopel. Auf Julians Schnelligkeit war der Kaiser nicht vorbereitet gewesen.
Für mich war diese Erkenntnis nutzlos. Meine Bewacher gingen kein Risiko ein. Zweifellos wussten sie, was ihnen blühte, wenn sie in den Augen des Notars versagten.
Ich stellte fest, dass ich von meiner Umgebung jede Kleinigkeit wahrnahm – die Schwalbenschwärme am Abendhimmel, den Schrei des Habichts im Morgengrauen. Ich dachte an den Tod und an die Götter und an Marcellus, den ich nicht wiedersehen würde. Es würde etliche Tage dauern, bis er mein Verschwinden bemerkte, und dann gäbe es keinen Hinweis, wohin ich gegangen sein könnte. Rufus – oder vielmehr sein Anstifter – hatte es klug eingefädelt, als er Marcellus in die Berge geschickt hatte. Ich sah ihn schon die Felsklüfte absuchen, in dem Glauben, ich sei hineingestürzt, und das quälte mich.
Wir reisten weiter auf der Militärstraße entlang des Hebrus.
Bei Hadrianopel kam ein Mann in der Kleidung eines Beamten zu uns und fragte laut und wichtigtuerisch nach dem Notar. Ich konnte nur wenige Worte aufschnappen. Als mein Bewacher mir das nächste Mal Wasser und Essen unter den Gitterstäben durchschob, fragte ich ihn, was der Mann gewollt hatte.
»Nichts, was dich betrifft«, antwortete er im Weggehen. »Regierungsgeschäfte. Halt jetzt den Mund.«
Kurz darauf sah ich den Notar als geschmeidige Silhouette im Schein der Fackeln mit dem Beamten davoneilen. Mein Instinkt sagte mir, dass da etwas Unvorhergesehenes im Gange war. Andererseits war in Gegenwart des Notars niemand ohne Anspannung. Als ich Paulus dann zurückkommen sah und alles weiterging wie bisher, war ich sicher, mich einer falschen Hoffnung hingegeben zu haben, die mein Urteilsvermögen trübte.