»Sie sind spät dran«, knurrte Matt Baker.
Baker war ein kleiner, grauhaariger Mann von Anfang fünfzig, blitzgescheit und umtriebig, aber oft auch barsch und ungeduldig. Stets trug er zerknitterte Anzüge, die aussahen, als hätte er darin geschlafen, und Dana vermutete, dass dem auch so war. Er leitete WTN, die Fernsehabteilung der Washington Tribune Enterprises.
Elliot Cromwell war Mitte sechzig, ein freundlicher, aufgeschlossener Mann, der oft und gern lächelte. Er war Milliardär, aber es gab zig verschiedene Versionen darüber, wie er sein riesiges Vermögen angehäuft hatte, darunter auch einige weniger schmeichelhafte. In der Medienbranche, wo es doch in erster Linie um die Verbreitung von Informationen geht, war er allen ein Rätsel.
Er wandte sich Dana zu. »Matt sagt, dass wir die Konkurrenz wieder schlagen«, sagte er. »Ihre Quoten steigen weiter.«
»Das höre ich gern, Elliot.«
»Dana, ich verfolge jeden Abend Dutzende von Nachrichtensendungen, aber Ihre ist anders als alle übrigen. Ich weiß nicht genau, warum, aber sie gefällt mir.«
Dana hätte Elliot Cromwell den Grund erklären können. Andere Nachrichtensprecher trugen die neuesten Ereignisse einem gesichtslosen Millionenpublikum vor, ohne auf ihre Zuschauer in irgendeiner Weise einzugehen. Dana indessen hatte beschlossen, die Sache persönlich zu gestalten. An einem Abend stellte sie sich vor, dass sie mit einer einsamen Witwe sprach, am nächsten mit einem gebrechlichen, hilflos ans Bett gefesselten Menschen, am dritten mit einem Handelsvertreter, der irgendwo fern von seiner Familie allein vor dem Fernseher saß. Ihre Nachrichten klangen eindringlich und direkt, und die Zuschauer mochten sie und reagierten entsprechend darauf.
»Meines Wissens haben Sie heute Abend einen interessanten Gast zum Interview eingeladen«, sagte Matt Baker.
Dana nickte. »Gary Winthrop.«
Gary Winthrop war Amerikas Märchenprinz. Er entstammte einer der bekanntesten Familien des Landes, ein gut aussehender Mann in den besten Jahren mit viel Charisma.
»Er tritt nicht gern in der Öffentlichkeit auf«, sagte Cromwell. »Wie haben Sie ihn dazu bewegen können?«
»Wir haben ein gemeinsames Hobby«, erklärte ihm Dana.
Cromwell furchte die Stirn. »Wirklich?«
»Ja.« Dana lächelte. »Ich gucke mir gern einen Monet oder van Gogh an, und er kauft sie gern. Aber im Ernst - ich habe ihn schon mal interviewt, und wir haben uns angefreundet. Wir bringen einen Bericht über die Pressekonferenz, die er heute Nachmittag gibt. Danach kommt mein Interview.«
»Wunderbar.« Cromwell strahlte.
Die nächste Stunde sprachen sie über die neue Sendung, die die Fernsehgesellschaft plante, ein einstündiges Kriminalmagazin mit dem Titel Alibi, das Dana produzieren und moderieren sollte. Es sollte zweierlei Zwecken dienen: Zum Einen auf Justizirrtümer und Unrecht aufmerksam machen, damit man sie wieder gutmachen konnte, und zum Zweiten das Publikum dazu anhalten, beim Lösen ungeklärter Kriminalfälle mitzuwirken.
»Es gibt jede Menge Magazinsendungen«, warf Matt warnend ein. »Folglich müssen wir besser sein als die anderen. Ich möchte, dass wir mit einem richtigen Hammer anfangen. Irgendwas, was die Zuschauer fesselt und -«
Die Gegensprechanlage summte. Matt Baker drückte eine Taste. »Ich habe doch gesagt, keine Anrufe. Warum -?«
Abbes Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Tut mir Leid. Ein Gespräch für Miss Evans. Jemand aus Kemals Schule ist dran. Es klingt dringend.«
Beklommen und mit heftigem Herzklopfen ging Dana ans Telefon. »Hallo ... Ist mit Kemal alles in Ordnung?« Sie hörte einen Moment lang zu. »Aha ... Ich verstehe ... Ja, ich komme gleich vorbei.« Sie legte den Hörer auf.
»Was ist los?«, fragte Matt.
»Ich soll zur Schule kommen und Kemal abholen«, sagte Dana.
Elliot Cromwell runzelte die Stirn. »Ist das der Junge, den Sie aus Sarajevo mitgebracht haben?«
»Ja.«
»Eine tolle Geschichte.«
»Ja«, sagte Dana verhalten.
»Haben Sie den nicht auf irgendeinem Grundstück aufgestöbert?«
»So ist es«, erwiderte Dana.
»Er hatte irgendeine Krankheit oder so was Ähnliches?«
»Nein«, sagte sie entschieden, weil sie keine Lust hatte, über diese Zeit zu reden. »Kemal hat einen Arm verloren. Er wurde von einer Bombe weggerissen.«
»Und Sie haben ihn adoptiert.«
»Offiziell noch nicht, Elliot. Aber ich habe es vor. Vorerst bin ich nur sein Vormund.«
»Nun denn, holen Sie ihn ab. Über Alibi sprechen wir später weiter.«
Als Dana in der Theodore Roosevelt Middle School eintraf, begab sie sich unverzüglich zum Rektorat. Vera Kostoff, die stellvertretende Schulleiterin, eine verhärmt wirkende, vorzeitig ergraute Frau um die fünfzig, saß an ihrem Schreibtisch. Kemal hockte ihr gegenüber. Er war zwölf Jahre alt, klein für sein Alter, schmal und blass, hatte zerzauste blonde Haare und ein trotziges Kinn. Sein rechter Hemdsärmel hing leer herunter. Hier in diesem Zimmer wirkte er noch schmächtiger als sonst.
Als Dana in das Büro kam, spürte sie sofort die Spannung, die in der Luft lag.
»Hallo, Mrs. Kostoff«, sagte sie mit strahlender Miene.
»Kemal.«
Kemal starrte auf seine Schuhe.
»Soweit ich weiß, ist irgendetwas vorgefallen«, fuhr Dana fort.
»Ja, das kann man wohl sagen, Miss Evans.« Sie reichte Dana ein Blatt Papier.
Dana schaute verdutzt darauf. Vidja stand dort, pizda, zbosti, fukati, nezakonski otrok, umreti, tepec. Sie blickte auf. »Ich - ich verstehe nicht recht. Das ist Serbisch, nicht wahr?«
»So ist es«, erwiderte Mrs. Kostoff verkniffen. »Kemal hat das Pech, dass ich zufällig Serbin bin. Diese Ausdrücke hat Kemal im Unterricht gebraucht.« Ihr Gesicht war rot angelaufen. »So drücken sich nicht einmal serbische Lastwagenfahrer aus, Miss Evans, und ich lasse mir von diesem Knaben hier keine solchen Kraftausdrücke bieten. Kemal hat mich eine pizda geheißen.«
»Eine pi-?«, sagte Dana.
»Ich bin mir durchaus darüber im Klaren, dass Kemal noch nicht lange in diesem Land weilt, und ich habe mich wirklich um Nachsicht bemüht, aber sein - sein Betragen ist abscheulich. Ständig ist er auf Streit aus, und als ich ihn heute Morgen getadelt habe, hat er - hat er mich beleidigt. Das geht zu weit.«
»Sie sind sich doch sicherlich bewusst, wie schwer er sich hier tut, Mrs. Kostoff, und -«
»Wie schon gesagt, ich bin durchaus nachsichtig mit ihm, aber er stellt meine Geduld auf eine harte Probe.«
»Ich verstehe.« Dana blickte zu Kemal. Er starrte nach wie vor mürrisch auf seine Schuhe.
»Ich hoffe, dass dies der letzte derartige Vorfall war«, sagte Mrs. Kostoff.
»Ich auch.« Dana stand auf.
»Ich habe Kemals Zeugnis für Sie.« Mrs. Kostoff öffnete eine Schublade, zog ein Blatt Papier heraus und reichte es Dana.
»Danke«, sagte Dana.
Auf der Heimfahrt schwieg Kemal.
»Was soll ich nur mit dir machen?«, sagte Dana. »Wieso bist du ständig auf Streit aus, und weshalb benutzt du solche Ausdrücke?«
»Ich hab nicht gewusst, dass sie Serbisch kann.«
»Ich muss wieder ins Studio, Kemal«, sagte sie, als sie vor ihrem Wohnhaus anlangten. »Kommst du hier allein klar?«
»Top.«
Als Kemal das zum ersten Mal zu ihr gesagt hatte, hatte Dana gedacht, er hätte sie nicht verstanden, doch sie begriff rasch, dass dies zu dem Geheimjargon gehörte, den die jungen Leute sprachen. »Top« hieß so viel wie »ja«. Angehörige des anderen Geschlechts wurden als »Knies« bezeichnet - knackig, niedlich und scharf. Alles war entweder cool oder geil, krass oder mega. Wenn ihm etwas nicht gefiel, war es ätzend.
Dana holte das Zeugnis heraus, das Mrs. Kostoff ihr gegeben hatte. Sie kniff die Lippen zusammen, als sie es las. Geschichte vier. Englisch vier. Naturkunde vier. Sozialkunde sechs. Mathematik eins.