»Es geht um das Team, das wir nach Irland geschickt haben, Wir wollten doch heute Abend den Film bringen, den die dort gemacht haben.«
»Ja?«
»Sie sind festgenommen worden. Außerdem hat man ihre gesamte Ausrüstung beschlagnahmt.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Ich scherze niemals, wenn es um Iren geht.« Er reichte Dana ein Blatt Papier. »Hier ist unser Aufmacher über den Banker aus Washington, den man wegen Betrugs belangen will.«
»Eine erstklassige Story«, sagte Dana. »Und wir haben sie exklusiv.«
»Unsere Rechtsabteilung hat sie gerade abgewürgt.«
»Was?«
»Sie befürchten, dass man uns verklagen könnte.«
»Na wunderbar«, versetzte Dana säuerlich.
»Und das ist noch nicht alles. Der Zeuge in dem Mordfall, den wir heute Abend interviewen wollten -«
»Ja .«
»Er hat es sich anders überlegt. Er kommt nicht.«
Dana stöhnte auf. Es war noch nicht einmal zehn Uhr. Das Einzige, worauf sie sich heute noch freuen konnte, war das Gespräch mit Roger Hudson.
»Es ist bereits elf Uhr, Miss Evans«, sagte Olivia, als Dana aus der Redaktionskonferenz kam. »Bei dem Wetter sollten Sie jetzt vielleicht aufbrechen, wenn Sie rechtzeitig bei Mr. Hudson sein wollen.«
»Danke, Olivia.« Dana blickte aus dem Fenster. Es fing wieder an zu schneien. Sie zog ihren Mantel an, legte den Schal um und wollte gerade zur Tür gehen, als das Telefon klingelte.
»Miss Evans .«
Dana drehte sich um.
»Ein Anruf für Sie auf Anschluss drei.«
»Jetzt nicht«, sagte Dana. »Ich muss los.«
»Es ist jemand von Kemals Schule.«
»Was?« Dana stürmte zu ihrem Schreibtisch. »Hallo?« »Miss Evans?«
»Ja.«
»Hier ist Thomas Henry.«
»Ja, Mr. Henry. Ist mit Kemal alles in Ordnung?«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich darauf antworten soll. So Leid es mir tut, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Kemal wird von der Schule verwiesen.«
Erschrocken stand Dana da. »Von der Schule verwiesen. Weshalb? Was hat er getan?«
»Vielleicht sollten wir das besser persönlich besprechen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie vorbeikommen und ihn abholen würden.«
»Mr. Henry -« »Ich erkläre es Ihnen, wenn Sie hier sind. Miss Evans. Besten Dank.«
Benommen legte Dana den Hörer auf. Was könnte da nur wieder vorgefallen sein?
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Olivia.
»Na großartig.« Dana stöhnte auf. »Das hat mir heute gerade noch gefehlt.«
»Kann ich irgendetwas tun?«
»Sprechen Sie ein Gebet für mich.«
Als Dana Kemal an diesem Morgen vor der Schule abgesetzt und ihm ein letztes Mal zugewinkt hatte und dann weggefahren war, hatte Ricky Underwood sie beobachtet.
»Hey, der Kriegsheld«, sagte Ricky, als Kemal an ihm vorbeigehen wollte. »Deine Mama muss ja einen schweren Frust schieben. Wo du doch bloß einen Arm hast, und wenn du mit ihr Stinkefinger spielen -«
Kemal reagierte so schnell, dass man kaum sah, wie er sich bewegte. Er rammte Ricky den Fuß in den Unterleib, und als Ricky aufschrie und sich vornüber krümmte, riss Kemal das linke Knie hoch und brach ihm das Nasenbein. In hohem Bogen spritzte das Blut durch die Luft.
Kemal beugte sich über die stöhnende Gestalt am Boden. »Das nächste Mal bring ich dich um.«
Dana fuhr so schnell sie konnte zur Theodore Roosevelt Middle School, wobei sie sich unterwegs die ganze Zeit fragte, was wohl vorgefallen sein mochte. Egal, was es war, ich muss Henry überreden, dass er Kemal auf der Schule lässt.
Thomas Henry erwartete Dana in seinem Büro. Kemal saß ihm auf einem Stuhl gegenüber. Als Dana eintrat, hatte sie das Gefühl, das Ganze schon mal erlebt zu haben.
»Miss Evans.« »Was ist vorgefallen?«, sagte Dana.
»Ihr Sohn hat einem anderen Jungen die Nase und das Jochbein gebrochen. Er musste mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme gebracht werden.«
Ungläubig blickte Dana ihn an. »Wie - wie konnte das denn passieren? Kemal hat doch nur einen Arm.«
»Ja«, versetzte Thomas Henry verkniffen. »Aber er hat zwei Beine. Er hat ihm das Nasenbein mit dem Knie gebrochen.«
Kemal betrachtete die Decke.
Dana wandte sich an ihn. »Kemal, wie konntest du das nur tun?«
Er blickte zu Boden. »Es war ganz einfach.«
»Verstehen Sie, was ich meine, Miss Evans«, sagte Thomas Henry. »Seine ganze Haltung ist - ich ... ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich fürchte, wir können Kemals Benehmen nicht länger dulden. Ich schlage vor, dass Sie eine andere Schule suchen, die eher für ihn geeignet ist.«
»Mr. Henry«, sagte Dana ernst, »Kemal legt es nicht auf Streit an. Wenn er trotzdem in eine Prügelei gerät, muss er einen guten Grund dafür gehabt haben, da bin ich mir völlig sicher. Sie können doch nicht -«
»Wir haben unsere Entscheidung getroffen, Miss Evans«, erwiderte Mr. Henry in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ.
Dana atmete tief durch. »Na schön. Dann suchen wir uns eben eine Schule, in der man mehr Verständnis hat. Komm, Kemal.«
Kemal stand auf, warf Mr. Henry einen wütenden Blick zu und verließ hinter Dana das Büro. Schweigend gingen sie hinaus auf den Bürgersteig. Dana blickte auf ihre Uhr. Sie kam jetzt zu spät zu ihrem Termin, und außerdem wusste sie nicht, wo sie Kemal unterbringen sollte. Ich muss ihn mitnehmen.
»Na schön, Kemal«, sagte Dana, als sie im Wagen saßen. »Was war los?«
Nie und nimmer konnte er ihr erzählen, was Ricky Underwood gesagt hatte. »Es tut mir sehr, sehr Leid, Dana. Es war meine Schuld.«
Krass, dachte Dana.
Die Hudsons wohnten auf einem zwei Hektar großen Grundstück in einer vornehmen Gegend von Georgetown. Eine lange, geschwungene Auffahrt führte hügelan zu dem weißen zweistöckigen Herrenhaus im georgianischen Stil, das von der Straße aus nicht zu sehen war.
Dana hielt vor dem Haus. Sie blickte zu Kemal. »Du kommst mit rein.«
»Wieso?«
»Weil es hier draußen zu kalt ist. Komm schon.«
Dana ging zur Haustür, worauf Kemal ihr widerwillig folgte.
Dana wandte sich an ihn. »Kemal, ich mache hier ein wichtiges Interview. Ich möchte, dass du ruhig und höflich bist. Okay?«
»Okay.«
Dana klingelte. Die Tür wurde von einem freundlich wirkenden, hünenhaften Mann geöffnet, der eine Butleruniform trug. »Miss Evans?«
»Ja.«
»Ich bin Cesar. Mr. Hudson erwartet Sie.« Er blickte zu Kemal, dann wieder zu Dana. »Darf ich Ihnen die Mäntel abnehmen?« Kurz darauf hängte er sie in eine Gästegarderobe in der Eingangshalle. Kemal starrte fortwährend zu Cesar auf, der ihn turmhoch überragte.
»Wie groß sind Sie?«
»Kemal!«, sagte Dana. »Sei nicht so unhöflich.«
»Ach, ist schon in Ordnung, Miss Evans. Ich bin das gewohnt.«
»Sind Sie größer als Michael Jordan?«, fragte Kemal.
»Ich fürchte ja.« Der Butler lächelte. »Ich bin zwei Meter sechzehn groß. Hier entlang bitte.«
Die Eingangshalle war riesig, ein langer Saal mit Hartholzboden, alten Spiegeln und Marmortischen. Die Wände waren von Regalen gesäumt, in denen kostbare Figurinen aus der Ming-Dynastie und Chihuly-Statuen aus mundgeblasenem Glas standen.
Dana und Kemal folgten Cesar den Flur entlang zu einem tiefer liegenden Wohnzimmer mit hellgelben Wänden und weißem Gebälk. Der Raum war mit bequemen Sofas, Queen-Anne-Tischchen und hellgelben Sheraton-Ohrensesseln eingerichtet.
Senator Roger Hudson und seine Frau Pamela saßen an einem Backgammon-Tisch. Sie erhoben sich, als Cesar Dana und Kemal ankündigte.
Roger Hudson war ein streng wirkender Mann Ende fünfzig mit kühlen grauen Augen und einem verhaltenen Lächeln. Er strahlte eine gewisse Unnahbarkeit aus, so als wäre er ständig auf der Hut.