Ach Gott, was soll ich nur machen?, dachte Dana, während sie das Zeugnis betrachtete. »Darüber sprechen wir ein andermal«, sagte sie. »Ich bin spät dran.«
Kemal war Dana ein Rätsel. Wenn sie beisammen waren, benahm er sich tadellos, er war liebevoll, zuvorkommend und reizend. Am Wochenende zogen Dana und Jeff mit ihm kreuz und quer durch Washington, gingen in den National Zoo mit seinem sehenswerten Aufgebot an wilden Tieren und betrachteten die aus den Dschungeln Chinas stammenden Riesenpandas. Sie besuchten das National Air & Space Museum, wo sie Kemal die von der Decke baumelnde Maschine zeigten, mit der die Gebrüder Wright den ersten Motorflug unternommen hatten, besichtigten das Skylab und fassten das Mondgestein an. Sie gingen ins Kennedy Center und zum Arena Stage. Sie luden Kemal zu einer Pizza bei Tom Tom ein, zu Tacos bei Mextec und Brathähnchen nach Südstaatenart bei Georgia Brown’s. Kemal genoss jede einzelne Sekunde. Er liebte diese gemeinsamen Unternehmungen mit Dana und Jeff über alles.
Doch wenn Dana zur Arbeit gehen musste, verwandelte sich Kemal in einen anderen Menschen. Er wurde feindselig und widerspenstig. Dana konnte auf Dauer keine Haushaltshilfe halten, und die Mädchen, die abends auf Kemal aufpassten, erzählten die reinsten Horrorgeschichten.
Jeff und Dana versuchten gütlich auf ihn einzuwirken, doch es nützte nichts.
Vielleicht braucht er psychologischen Beistand, dachte Dana. Sie hatte keine Ahnung, welche Ängste und Schrecken Kemal plagten.
Die Abendnachrichten von WTN gingen über den Äther. Richard Melton, Danas gut aussehender Ko-Moderator, und Jeff Connors saßen neben ihr.
». und nun zum Ausland«, sagte Dana gerade. »Zwischen England und Frankreich gibt es nach wie vor Reibereien wegen des Rinderwahnsinns. Ein Bericht von Rene Linaud aus Reims.«
»Schalten Sie auf Satellit«, befahl Anastasia Mann im Regieraum.
Eine Viehweide inmitten einer typisch französischen Landschaft tauchte auf den diversen Bildschirmen auf.
Die Studiotür ging auf, und etliche Männer kamen herein und gingen auf das Moderatorenpult zu.
Alle blickten auf. »Dana, Sie kennen doch Gary Winthrop«, sagte Tom Hawkins, der ehrgeizige junge Produzent der Abendnachrichten.
»Natürlich.«
Leibhaftig sah Gary Winthrop noch besser aus als auf den Fotos. Er war Mitte vierzig, hatte strahlend blaue Augen, lächelte freundlich und sprühte förmlich vor Charme.
»So trifft man sich wieder, Dana. Danke, dass Sie mich eingeladen haben.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind.«
Dana blickte sich um. Ein halbes Dutzend Sekretärinnen, die alle so taten, als hätten sie hier etwas Dringendes zu tun, tummelte sich mit einem Mal im Studio. Gary Winthrop ist so was bestimmt gewohnt, dachte Dana amüsiert.
»Ihr Beitrag kommt in ein paar Minuten. Setzen Sie sich loch zu mir. Das ist Richard Melton.« Die beiden Männer Schüttelten sich die Hand. »Jeff Connors kennen Sie ja bestimmt, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Sie sollten selber wieder antreten, Jeff, statt nur von den Spielen zu berichten.«
»Ich wünschte, ich könnte es«, erwiderte Jeff zerknirscht.
Der Beitrag aus Frankreich ging zu Ende, und danach kam eine Werbepause. Gary Winthrop nahm Platz und wartete, bis der letzte Spot vorüber war.
»Bitte bereithalten«, meldete sich Anastasia Mann aus dem Regieraum. »Wir spielen das Band ein.« Lautlos zählte sie mit dem Zeigefinger ab. »Drei . zwei . eins.«
Auf dem Monitor tauchte das Portal des Georgetown Museum of Art auf. Ein Kommentator mit dem Mikrofon in der Hand trotzte tapfer dem kalten Wind.
»Wir befinden uns hier vor dem Georgetown Museum of Art, in dem soeben ein Empfang zu Ehren von Mr. Gary Win-throp stattfindet, der dem Museum eine Spende von fünfzig Millionen Dollar überreicht hat. Begeben wir uns hinein.«
Das Bild wechselte zu einem weitläufigen Museumssaal, in dem sich zahlreiche Würdenträger, Vertreter der Stadt und diverse Fernsehteams um Gary Winthrop scharten. Morgan Ormond, der Direktor des Museums, überreichte ihm eine große Plakette.
»Mr. Winthrop, im Namen unseres Museums, der vielen Menschen, die hierher kommen, sowie all unserer Förderer möchte ich mich bei Ihnen für diese überaus großzügige Spende bedanken.«
Rundum gingen Blitzlichter los.
»Ich hoffe«, sagte Gary Winthrop, »dass dadurch jungen amerikanischen Malern die Möglichkeit geboten wird, sich nicht nur künstlerisch auszudrücken, sondern ihre Werke auch öffentlich auszustellen, damit sie weltweit Anerkennung finden.«
Lauter Beifall aus dem Publikum.
»Bill Toland vom Georgetown Museum of Art«, sagte der Kommentator. »Zurück ins Studio. Dana?«
Das rote Licht an der Kamera blinkte auf.
»Vielen Dank, Bill. Mr. Gary Winthrop hat sich freundlicherweise bereit erklärt, zu uns zu kommen und mit uns über Sinn und Zweck seiner enormen Spende zu sprechen.«
Die Kamera fuhr zurück, bis sie auch Gary Winthrop erfasste, der neben Dana im Studio saß.
»Mr. Winthrop«, begann Dana, »soll diese Spende von fünfzig Millionen Dollar dazu verwendet werden, neue Bilder für das Museum anzukaufen?«
»Nein. Sie ist in erster Linie für den Ausbau eines neuen Flügels gedacht, der vor allem jungen amerikanischen Künstlern vorbehalten sein soll, die ansonsten wenig Gelegenheit haben zu zeigen, was sie können. Darüber hinaus soll ein Teil des Geldes in Stipendien für künstlerisch begabte Jugendliche aus problematischen Innenstadtbezirken fließen. Die jungen Leute heutzutage wachsen doch ohne jedes Kunstverständnis auf. Der eine oder andere hört vielleicht mal irgendwas von französischen Impressionisten, aber mir geht es vor allem darum, dass sie sich auf ihr eigenes Erbteil besinnen, denn auch Amerika hat mit Künstlern wie Sargent, Homer und Remington einiges zu bieten. Diese Spende soll dazu verwendet werden, junge Künstler zu fördern und allen jungen Menschen die Kunst näher zu bringen.«
»Es geht das Gerücht«, sagte Dana, »dass Sie für einen Sitz im Senat kandidieren wollen, Mr. Winthrop. Ist da etwas Wahres dran?«
Gary Winthrop nickte. »In meiner Familie ist es schon seit langem üblich, dass man sich in den Dienst der Öffentlichkeit stellt. Wenn ich etwas zum Nutzen dieses Landes beitragen kann, werde ich alles in meiner Macht Stehende dazu tun.«
»Vielen Dank für Ihren Besuch, Mr. Winthrop.«
»Ich danke Ihnen.«
In der anschließenden Werbepause verabschiedete sich Gary Winthrop und verließ das Studio.
»Wir könnten ein paar mehr von seiner Sorte im Kongress gebrauchen«, sagte Jeff Connors, der neben Dana saß.
»Amen.«
»Vielleicht sollten wir ihn klonen. Übrigens - was macht Kemal?«
Dana zuckte zusammen. »Jeff - bitte erwähne Kemal und Klonen nicht in einem Atemzug. Das ertrage ich nicht.«
»Hat sich die Sache mit der Schule heute Morgen regeln lassen?«
»Ja, aber das war heute. Morgen ist -«
»Wir sind wieder dran«, sagte Anastasia Mann. »Drei ... zwei ... eins ...«
Das rote Licht blinkte auf. Dana blickte auf den Teleprompter. »Und nun zum Sport, mit Jeff Connors.«
Jeff wandte sich in die Kamera. »Die Washington Bullets waren heute Abend von allen guten Geistern verlassen. Juwan Howard hat ein paar Zaubertricks versucht, doch Gheorghe Muresan und Rasheed Wallace kochten ihr eigenes Süppchen, und was dabei herauskam, war bitter und schmeckte ihnen überhaupt nicht .«
Die beiden Männer, die um zwei Uhr morgens in Gary Winthrops Stadtvilla eindrangen, nahmen sich zunächst die Bilder im Salon vor. Der eine trug eine Zorro-Maske, der andere war als Batman verkleidet. Sie gingen in aller Ruhe ans Werk, schnitten die Gemälde aus dem Rahmen und verstauten sie in einem großen Jutesack.