»Und Julie Winthrop fuhr auf der ...?«
»Steep Chutes.«
»Dann war sie also eine erfahrene Skiläuferin?«
»Mit Sicherheit«, erwiderte Bruce Bowler. Er zögerte einen Moment. »Das ist ja das Sonderbare daran.«
»Was?«
»Na ja, wir machen hier jeden Donnerstag von vier Uhr nachmittags bis neun Uhr abends Nachtabfahrten. An dem Tag waren allerhand Skifahrer unterwegs. Und Punkt neun waren alle wieder da, bis auf Julie. Wir haben uns seinerzeit auf die Suche gemacht. Wir haben ihre Leiche unten im Auslauf der Steep Chutes gefunden. Sie war gegen einen Baum geprallt. Muss auf der Stelle tot gewesen sein.«
Dana schloss einen Moment lang die Augen, meinte das jähe Erschrecken und den Schmerz förmlich spüren zu können. »Sie - sie war also allein, als der Unfall passierte?«
»Ja. Normalerweise sollten Skifahrer niemals allein losziehen, aber die Könner machen es mitunter trotzdem, damit sie mal so richtig die Sau rauslassen können. Wir achten hier darauf, dass die Pisten genau markiert sind, und jeder, der sich nicht dran hält, ist auf eigene Gefahr unterwegs. Julie Winthrop ist außerhalb der markierten Strecke abgefahren, auf einer gesperrten Piste. Hat eine ganze Weile gedauert, bis wir ihre Leiche gefunden haben.«
»Mr. Bowler, was unternehmen Sie, wenn ein Skifahrer nicht rechtzeitig zurückkehrt?«
»Sobald die Meldung eingeht, dass jemand vermisst wird, leiten wir die Schnapsleichensuche ein.«
»Was ist denn eine Schnapsleichensuche?«
»Wir rufen bei Freunden und Bekannten an und erkundigen uns, ob der vermisste Skifahrer womöglich bei ihnen steckt. Klappern ein paar Bars ab. Das ist keine große Sache. Und unsere Leute müssen dann nicht eigens ausrücken, um einen Besoffenen zu suchen, der zugedröhnt in irgendeiner Kneipe hängt.«
»Und wenn jemand wirklich vermisst wird?«, fragte Dana.
»Dann besorgen wir uns die Beschreibung der betreffenden Person, erkundigen uns, wie gut sie Ski fahren konnte und wo man sie zuletzt gesehen hat. Außerdem fragen wir immer, ob sie eine Kamera dabei hatte.«
»Wieso?«
»Weil wir durch die Bilder womöglich einen Hinweis erhalten, wo der betreffende Skifahrer am liebsten abgefahren ist. Außerdem erkundigen wir uns, wie und womit er wieder in die Stadt zurückgelangen wollte. Wenn wir damit nicht weiterkommen, gehen wir davon aus, dass der vermisste Skifahrer außerhalb der markierten Pisten abgefahren ist. Dann verständigen wir die Staatspolizei von Alaska, worauf die eine Such- und Rettungsaktion in die Wege leitet und etliche Suchtrupps und einen Hubschrauber losschickt. Außerdem unterstützen uns die ganzen Privatflieger.«
»Das ist ja ein ziemlich starkes Aufgebot.«
»Na klar. Aber Sie müssen bedenken, dass wir hier ein rund zweihundertsechzig Hektar großes Skigebiet haben und pro Jahr im Schnitt etwa vierzig Suchaktionen durchführen müssen. Die meisten übrigens mit Erfolg.« Bruce Bowler blickte aus dem Fenster auf den kalten, schneeverhangenen Himmel. »Ich wünschte, es wäre auch in diesem Fall so gewesen.« Er wandte sich wieder an Dana. »Und außerdem ist jeden Tag eine Skipatrouille unterwegs, die sämtliche Pisten abfährt, sobald die Lifte geschlossen haben.«
»Man hat mir erzählt«, sagte Dana, »dass Julie Winthrop sich am Eaglecrest gut auskannte.«
Er nickte. »Das stimmt. Aber das will gar nichts heißen. Da können plötzlich Wolken aufziehen, sodass man die Orientierung verliert, oder man hat einfach Pech. Die arme Miss Winthrop hat einfach Pech gehabt.«
»Wie hat man sie gefunden?«
»Mayday hat sie gefunden.«
»Mayday?«
»Das ist unser bester Suchhund. Die Skipatrouille ist mit schwarzen Labrador- und Schäferhunden unterwegs. Unglaublich, was die Hunde bringen. Sie laufen immer gegen den Wind, bis sie menschliche Witterung aufnehmen, folgen der Duftspur und tasten sich dann allmählich immer näher ran. Wir haben eine Kettenkatze zum Unfallort rausgeschickt, und als -«
»Eine Kettenkatze?«
»Unser Schneemobil. Wir haben Julie Winthrops Leiche auf einem Rettungsschlitten zurückgeschafft. Die drei Sanitäter haben ein EKG gemacht, Fotos aufgenommen und einen Bestattungsunternehmer verständigt. Ihre Leiche wurde ins Bartlett Regional Hospital gebracht.«
»Und niemand weiß, wie es zu dem Unfall kam?«
Er zuckte die Achseln. »Wir wissen lediglich, dass ihr eine mächtige Fichte in die Quere gekommen ist. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. War kein schöner Anblick.«
Dana musterte Bruce Bowler einen Moment lang. »Könnte ich mir die Abfahrtsstrecke am Eaglecrest vielleicht mal ansehen?«
»Warum nicht? Aber wir sollten erst aufessen, dann bring ich Sie persönlich rauf.«
Sie fuhren mit einem Jeep zu einer am Fuß der Berge gelegenen Hütte.
»Hier treffen wir uns immer und sprechen ab, wie wir die Such- und Rettungsaktion durchziehen wollen«, erklärte Bruce Bowler. »Wir verleihen Skiausrüstung, und wir stellen hier auch Skilehrer, falls jemand einen haben will. Wir nehmen den Lift da.«
Dana zitterte vor Kälte, als sie mit dem Ptarmigan-Sessellift hinauf zum Eaglecrest fuhren.
»Ich hätte Sie vorwarnen sollen. Bei diesem Wetter brauchen Sie festes Überzeug und warme Unterkleidung, und Sie müssen möglichst viele Schichten übereinander tragen.«
»Ich werd’s mir m-merken«, versetzte Dana bibbernd.
»Mit diesem Sessellift ist auch Julie Winthrop raufgefahren. Sie hatte ihren Rucksack dabei.«
»Ihren Rucksack?«
»Ja. In diesen Rucksäcken sind eine Lawinenschaufel, ein Sender mit einer Reichweite von bis zu fünfzig Metern und eine Stange, mit der man notfalls durch den Schnee stoßen kann.« Er seufzte. »Das nützt einem natürlich nicht viel, wenn man gegen einen Baum prallt.«
Sie näherten sich dem Gipfel. Ein Mann empfing sie, als sie oben ankamen und mit steifen Knochen aus den Sesseln stiegen.
»Was führt dich denn hier rauf, Bruce? Wird etwa jemand vermisst?«
»Nein. Ich will bloß mal einer Bekannten zeigen, wie’s hier oben aussieht. Das ist Miss Evans.«
Sie begrüßten einander. Dana blickte sich um. Hier oben gab es eine Schutzhütte, die beinahe in den Wolken verschwand. Ist Julie Winthrop dort reingegangen, bevor sie abgefahren ist? Ist ihr vielleicht jemand gefolgt? Jemand, der sie töten wollte?
Bruce Bowler wandte sich an Dana. »Das hier ist der höchste Punkt. Von hier aus geht’s nur noch bergab.«
Dana drehte sich um, blickte den schier endlosen Steilhang hinab und erschauderte.
»Sie sehen ja völlig erfroren aus. Ich bring Sie lieber wieder runter.«
»Vielen Dank.«
Dana war kaum wieder ins Inn at The Waterfront zurückgekehrt, als es an ihrer Tür klopfte. Dana machte auf. Ein hoch aufgeschossener Mann mit blassem Gesicht stand davor.
»Miss Evans?«
»Ja.«
»Hallo. Mein Name ist Nicholas Verdun. Ich bin vom Juneau Empire, der hiesigen Zeitung.«
»Ja?«
»So weit ich weiß, stellen Sie hier Recherchen wegen des tödlichen Unfalls von Julie Winthrop an. Wir möchten gern darüber berichten.«
Augenblicklich war Dana auf der Hut. »Ich fürchte, da liegt ein Irrtum vor. Ich bin nicht zu Recherchen hier.«
Der Mann blickte sie skeptisch an. »Aber ich habe gehört, dass -«
»Wir wollen eine Reportage über die besten Skigebiete der Welt machen. Das hier ist nur eine Station auf unserer Tour.«
Er stand einen Moment lang unschlüssig da. »Aha. Dann entschuldigen Sie bitte die Störung.«
Dana blickte ihm nach, als er ging. Woher weiß er, was ich hier mache? Sie rief beim Juneau Empire an. »Hallo. Ich möchte mit einem Ihrer Reporter sprechen, Nicholas Verdun ...« Sie hörte einen Moment lang zu. »Bei Ihnen gibt es niemanden, der so heißt? Verstehe. Danke.«