Jean Somville musterte sie erstaunt. »Mit Sicherheit nicht! Hat irgendjemand behauptet, dass Taylor Winthrop bei der Nato in einen Skandal verwickelt gewesen wäre?«
»Nein«, wandte Dana rasch ein. »Ich habe nur gehört, dass es ... dass es Streit gegeben haben soll, irgendeine Meinungsverschiedenheit zwischen Winthrop und jemand anderem hier.«
Somville runzelte die Stirn. »Meinst du einen persönlichen Streit?«
»Ja.«
Er schürzte die Lippen. »Ich weiß von nichts. Aber das lässt sich möglicherweise herausfinden.«
»Dafür wäre ich dir sehr verbunden.«
Tags drauf rief Dana Jean Somville an.
»Hast du etwas mehr über Taylor Winthrop herausgefunden?«
»Tut mir Leid, Dana. Ich hab’s versucht. Ich fürchte, da gibt es nichts herauszufinden.« Dana hatte bereits mit einer solchen Antwort gerechnet.
»Trotzdem danke.« Dana war unzufrieden mit sich und der Welt.
»Gern geschehen. Tut mir Leid, dass du die Reise umsonst gemacht hast.«
»Jean, ich habe gelesen, dass Marcel Falcon, der französische Gesandte bei der Nato, unerwartet zurückgetreten und nach Frankreich heimgekehrt ist. Ist das nicht ungewöhnlich?«
»Mitten in der Amtszeit schon. Doch, ja.«
»Weshalb ist er zurückgetreten?«
»Daran ist nichts Geheimnisvolles. Es war wegen eines Unfalls. Sein Sohn wurde von einem Autofahrer getötet, der anschließend vom Unfallort flüchtete.«
»Ein Unfallflüchtiger? Hat man ihn gefasst?«
»O ja. Er stellte sich kurz nach dem Unfall der Polizei.«
Wieder eine Sackgasse. »Aha.«
»Es war ein Chauffeur, ein gewisser Antonio Persico. Er hat für Taylor Winthrop gearbeitet.«
Dana fröstelte mit einem Mal. »Ach? Und wo ist dieser Persico jetzt?«
»In der Haftanstalt Saint Gilles, hier in Brüssel. Tut mir Leid, dass ich dir nicht weiterhelfen konnte«, fügte Somville entschuldigend hinzu.
Dana ließ sich eine Kurzfassung des Zeitungsberichts aus Washington faxen. Antonio Persico, der Chauffeur von Botschafter Taylor Winthrop, wurde heute von einem belgischen Gericht zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, nachdem er sich für schuldig bekannt hatte, Gabriel Falcon, den Sohn des französischen Gesandten bei der Nato, bei einem Verkehrsunfall getötet und sich anschließend vom Unfallort entfernt zu haben.
Die Haftanstalt St. Gilles, ein altes, mit Türmen bewehrtes weißes Gebäude, das einer Burg ähnelt, liegt fast in der Stadtmitte von Brüssel. Dana hatte vorher angerufen und die Erlaubnis zu einem Gespräch mit Antonio Persico eingeholt. Jetzt wurde sie in den Gefängnishof eingelassen und zum Büro des Direktors geleitet.
»Sie wollen also mit Persico sprechen?«
»Ja.«
»Nun gut.«
Nach einer kurzen Durchsuchung wurde Dana von einem Aufseher in den Besuchsraum gebracht, wo Antonio Persico bereits auf sie wartete. Er war ein kleiner Mann mit weit auseinander stehenden grünen Augen und einem blassen Gesicht, in dem es fortwährend zuckte.
»Gott sei Dank, endlich kommt jemand«, lauteten Persicos erste Worte, als Dana eintrat. »Sie holen mich jetzt hier raus.«
Dana blickte ihn verdutzt an. »Ich - tut mir Leid, aber das kann ich nicht.«
Persico kniff die Augen zusammen. »Warum sind Sie dann hier? Man hat mir versprochen, dass jemand vorbeikommt und mich rausholt.«
»Ich wollte mit Ihnen über den Tod von Gabriel Falcon sprechen.«
Persico hob die Stimme. »Damit hatte ich nichts zu tun. Ich bin unschuldig.«
»Aber Sie haben doch ein Geständnis abgelegt.«
»Ich habe gelogen.«
»Weshalb sollten Sie ...?«, setzte Dana an.
Antonio Persico schaute ihr in die Augen. »Man hat mich dafür bezahlt«, sagte er mit bitterem Unterton. »Taylor Winthrop hat ihn überfahren.« Danach schwieg er eine ganze Weile.
»Erzählen Sie mir etwas darüber.«
Das Zucken wurde schlimmer. »Es ist an einem Freitagabend passiert. Mr. Winthrops Frau war an diesem Wochenende in London.« Seine Stimme klang angespannt. »Mr. Winthrop war allein unterwegs. Er ist ins Ancienne Belgique gegangen, einen Nachtclub. Ich habe ihm angeboten, ihn zu chauffieren, aber er hat gesagt, er will selber fahren.« Persico stockte, von der Erinnerung übermannt.
»Was ist danach passiert?«
»Mr. Winthrop kam spät nach Hause, stockbetrunken. Er erzählte mir, dass ihm ein Junge vor den Wagen gelaufen war. Er - er hat ihn überfahren. Mr. Winthrop wollte einen Skandal vermeiden, deshalb fuhr er weiter. Danach bekam er Angst, dass jemand den Unfall gesehen und der Polizei die Autonummer genannt haben könnte. Als Diplomat genoss er zwar strafrechtliche Immunität, aber er sagte, wenn die Sache rauskäme, würde dadurch das russische Vorhaben zunichte gemacht.«
Dana runzelte die Stirn. »Das russische Vorhaben?«
»Ja. Genau das hat er gesagt.«
»Was ist das russische Vorhaben?«
Er zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Ich habe nur gehört, wie er’s am Telefon gesagt hat. Er war wie von Sinnen.« Persico schüttelte den Kopf. »Er hat am Telefon nur ständig gesagt: >Das russische Vorhaben muss durchgeführt werden. Wir sind schon zu weit gegangen, als dass wir uns jetzt noch von irgendetwas aufhalten lassen dürfen.««
»Und Sie haben keine Ahnung, wovon er gesprochen hat?«
»Nein.«
»Können Sie sich noch an irgendetwas anderes erinnern, was er gesagt hat?«
Persico dachte einen Moment lang nach. »Er hat irgend so was ähnliches gesagt wie >Alle Einzelheiten sind geregelte.« Er blickte Dana an. »Worum es auch immer gegangen sein mag, es klang jedenfalls sehr wichtig.«
Dana merkte sich jedes einzelne Wort. »Mr. Persico, weshalb sollten Sie die Schuld an dem Unfall auf sich nehmen?«
Persico kniff den Mund zusammen. »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich bin dafür bezahlt worden. Taylor Winthrop sagte, wenn ich gestehen würde, dass ich am Steuer gesessen hätte, würde er mir eine Million Dollar geben und sich um meine Familie kümmern, solange ich im Gefängnis sitze. Er hat gesagt, er könnte dafür sorgen, dass ich nur eine kurze Freiheitsstrafe bekomme.« Er knirschte mit den Zähnen. »Und ich Trottel habe ja gesagt.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Und jetzt ist er tot, und ich sitze noch jahrelang hier drin.« Aus seinen Augen sprach die schiere Verzweiflung.
Sprachlos und erschrocken über das, was sie soeben gehört hatte, stand Dana da. »Haben Sie das schon jemandem erzählt?«, fragte sie schließlich.
»Natürlich«, versetzte Persico bitter. »Sobald ich gehört habe, dass Taylor Winthrop tot ist, habe ich der Polizei von unserer Abmachung erzählt.«
»Und?«
»Die haben mich ausgelacht.«
»Mr. Persico, ich werde Sie jetzt etwas sehr Wichtiges fragen. Denken Sie genau nach, bevor Sie antworten. Haben Sie Marcel Falcon jemals erzählt, dass es Taylor Winthrop war, der seinen Sohn getötet hat?«
»Selbstverständlich. Ich dachte, er würde mir helfen.«
»Was hat Marcel Falcon gesagt, als Sie es ihm erzählt haben?«
»Seine genauen Worte lauteten: >Möge ihm seine ganze Familie in der Hölle Gesellschaft leistenc.«
Mein Gott, dachte Dana. Nun sind es schon drei.
Ich muss unbedingt mit Marcel Falcon in Paris sprechen.
Der Zauber von Paris war bereits zu spüren, als sie zum Landeanflug ansetzten. Es war die Stadt des Lichts, die Stadt der Liebenden. Hierher sollte man nicht allein kommen. Umso mehr sehnte sich Dana nach Jeff.
Dana war im Relais des Hotels Plaza Athenee und redete mit Jean-Paul Hubert vom Fernsehsender Metro 6.
»Marcel Falcon? Natürlich. Den kennt doch jeder.« »Was kannst du mir über ihn erzählen?«
»Er ist eine ziemlich bedeutende Persönlichkeit. Das, was ihr Amerikaner einen >großen Macher< nennt.«