»Sehr große sogar. Vielen Dank.«
»Ich hole Sie in einer Stunde ab.«
Die Ballettaufführung fand in dem im Kreml gelegenen Kongresspalast mit seinen sechstausend Sitzplätzen statt. Es war ein zauberhafter Abend. Die Musik war wunderbar, die Choreographie fantastisch, und der erste Akt verging wie im Flug.
Als zur Pause das Licht anging, stand Tim auf. »Mir nach. Rasch.«
Die Menschenmassen wälzten sich bereits die Treppe hinauf.
»Was ist da los?«
»Das werden Sie gleich sehen.«
Als sie im oberen Stockwerk ankamen, fiel ihr Blick auf ein halbes Dutzend Büfetttische, auf denen Schüsseln voller Kaviar und auf Eis gelagerte Wodkaflaschen angerichtet waren. Die Theaterbesucher, die zuerst eingetroffen waren, bedienten sich bereits tüchtig.
Dana wandte sich an Tim. »Die wissen aber, wie man es sich gut gehen lässt.«
»Das gilt nur für die Oberschicht«, sagte Tim. »Sie müssen bedenken, dass dreißig Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze liegen.«
Dana und Tim begaben sich zum Fenster, wo weniger Gedränge herrschte.
Das Licht fing an zu blinken. »Es wird Zeit für den zweiten Akt.«
Der zweite Akt war ebenso hinreißend, doch Dana gingen immer wieder Gesprächsfetzen durch den Kopf.
Taylor Winthrop war ein Scheißkerl. Schlau war er schon, sehr schlau sogar. Er hat mich reingelegt ...
Es war ein Unfall. Gabriel war ein prächtiger Junge ...
Taylor Winthrop hat die gesamte Familie Mancino für alle Zeiten ausgelöscht ...
Als das Ballett zu Ende war und sie wieder im Wagen saßen, wandte sich Tim Drew an sie. »Hätten Sie Lust, auf einen Schlummertrunk mit in meine Wohnung zu kommen?«
Dana drehte sich zu ihm um. Er war attraktiv, intelligent und charmant. Aber er war nicht Jeff. »Vielen Dank, Tim«, erwiderte sie schließlich. »Lieber nicht.«
»Oh.« Er war sichtlich enttäuscht. »Vielleicht morgen?«
»Herzlich gern, aber ich muss morgens früh raus.« Und außerdem bin ich hoffnungslos in jemand anders verliebt.
Am nächsten Morgen begab sich Dana in aller Frühe ein weiteres Mal zum Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung. Der gleiche Wachmann saß am Empfang.
»Döbrij djen.«
»Döbrij djen.«
»Mein Name ist Dana Evans. Wenn der Kommissar nicht zu sprechen ist, könnte ich dann vielleicht seinen Stellvertreter sprechen?«
»Haben Sie einen Termin?«
»Nein. Ich -«
Er reichte Dana ein Formular. »Füllen Sie das aus ...«
Als Dana auf ihr Zimmer zurückkehrte, klingelte ihr Handy. Ihr Herz tat einen Sprung.
»Dana ...«
»Jeff!«
Es gab so vieles, was sie einander sagen wollten. Doch Rachel stand wie ein unsichtbarer Schatten zwischen ihnen, sodass sie nicht über das Thema sprechen konnten, das sie am allermeisten beschäftigte: Rachels Krankheit. Unter diesen Umständen mussten sie auf jedes Wort achten.
Der Anruf von Kommissar Schdanoffs Büro kam unerwartet. »Dana Evans?«, meldete sich am nächsten Morgen um acht Uhr ein Mann mit starkem Akzent.
»Ja.«
»Hier spricht Jerik Karbawa, der Assistent von Kommissar Schdanoff. Sie möchten den Kommissar sprechen?«
»Ja!« Sie erwartete fast, dass er sie fragte, ob sie einen Termin hätte. Stattdessen sagte er: »Seien Sie in genau einer Stunde im Büro für internationale Wirtschaftsentwicklung.«
»Gut. Ich danke Ihnen viel-« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Eine Stunde später betrat Dana einmal mehr das Foyer des riesigen Ziegelbaus. Sie ging zu dem altbekannten Wachmann, der am Empfang saß.
Er blickte auf. »Döbrij djen?«
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Döbrij djen. Mein Name ist Dana Evans, und ich möchte Kommissar Schdanoff sprechen.«
Er zuckte die Achseln. »Tut mir Leid. Wenn Sie keinen Termin -«
Dana ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich habe einen Termin.«
Er musterte sie ungläubig. »Da?« Dann griff er zum Telefon und sprach kurz mit jemandem. Er wandte sich an Dana. »Zweiter Stock«, sagte er unwirsch. »Jemand holt Sie dort ab.«
Kommissar Schdanoffs Büro war riesengroß und ziemlich schäbig, und die Einrichtung sah aus, als stammte sie aus den frühen Zwanzigerjahren. Zwei Männer saßen darin.
Als Dana eintrat, standen sie beide auf. »Ich bin Kommissar Schdanoff«, sagte der Ältere.
Sascha Schdanoff war schätzungsweise etwa Mitte fünfzig. Er war klein und untersetzt, hatte schütteres graues Haar, ein blasses, rundliches Gesicht und braune Augen, die fortwährend nach links und rechts zuckten, als suchte er irgendetwas. Er trug einen unförmigen braunen Anzug und abgewetzte schwarze Schuhe. Er sprach mit starkem Akzent, als er auf den zweiten Mann deutete.
»Das ist mein Bruder Boris.«
Boris Schdanoff lächelte. »Wie geht es Ihnen, Miss Evans?«
Boris Schdanoff sah ganz anders aus als sein Bruder. Er musste gut und gern zehn Jahre jünger sein, hatte eine Adlernase und ein energisches Kinn. Er trug einen hellblauen Armani-Anzug und eine graue Hermes-Krawatte. Er sprach nahezu akzentfreies Englisch.
»Boris ist aus Amerika zu Besuch«, sagte Sascha Schda-noff stolz. »Er ist bei der russischen Botschaft in Ihrer Hauptstadt Washington.«
»Ich bin ein großer Verehrer von Ihnen, Miss Evans«, sagte Boris Schdanoff.
»Vielen Dank.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Sascha Schdanoff. »Haben Sie irgendwelche Schwierigkeiten?«
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Dana. »Ich wollte Sie über Taylor Winthrop befragen.«
Er blickte sie verdutzt an. »Was möchten Sie über Taylor Winthrop wissen?«
»Soweit ich weiß, hatten Sie beruflich mit ihm zu tun und haben ihn gelegentlich auch privat getroffen.«
»Da«, sagte Sascha Schdanoff zurückhaltend.
»Ich möchte Ihre persönliche Meinung über ihn hören.«
»Was soll ich sagen? Ich glaube, er war ein guter Botschafter Ihres Landes.«
»Soweit ich gehört habe, war er hier sehr beliebt und -«
»O ja«, mischte sich Boris Schdanoff ein. »In den Botschaften hier in Moskau gibt es viele Partys, und Taylor Winthrop war immer -«
Sascha Schdanoff warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. »Dowolno!« Dann wandte er sich wieder an Dana. »Botschafter Winthrop ist manchmal zu den Botschaftsempfängen gegangen. Er war gern unter Leuten. Die Menschen hier in Russland haben ihn gemocht.«
Boris Schdanoff ergriff wieder das Wort. »Er hat mir zum Beispiel erzählt, dass er, wenn er könnte -«
»Molchat!«, herrschte ihn Sascha Schdanoff an. Er wandte sich wieder um. »Wie gesagt, Miss Evans, er war ein guter Botschafter.«
Dana blickte zu Boris Schdanoff. Offensichtlich versuchte er ihr etwas mitzuteilen. Sie wandte sich wieder an den Kommissar. »Hatte Botschafter Winthrop während seiner Anwesenheit hier irgendwelche Unannehmlichkeiten?«
Sascha Schdanoff runzelte die Stirn. »Unannehmlichkeiten? Nein.« Er wich ihrem Blick aus.
Er lügt, dachte Dana. Sie hakte nach. »Kommissar, fällt Ihnen irgendein Grund dafür ein, weshalb jemand Taylor Winthrop und seine Angehörigen ermordet haben könnte?«
Sascha Schdanoff riss die Augen auf. »Ermordet? Die Winthrops. Njet. Njet.«
»Ihnen fällt nicht das Geringste dazu ein?«
»Genau genommen -«, setzte Boris Schdanoff an.
Sascha Schdanoff fiel ihm ins Wort. »Es gab keinen Grund. Er war ein hervorragender Botschafter.« Er nahm sich eine Zigarette aus einem Silberetui, worauf ihm Boris rasch Feuer gab.
»Möchten Sie sonst noch etwas wissen?«, fragte Sascha Schdanoff.