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»Dana, mein Schatz.«

Es war ihre Mutter. »Hallo, Mutter. Ich war gerade am Gehen -«

»Meine Freunde und ich haben uns gestern Abend deine Sendung angesehen. Du warst sehr gut.«

»Vielen Dank.«

»Allerdings fanden wir, dass du die Nachrichten ein bisschen freundlicher gestalten hättest können.«

Dana seufzte. »Die Nachrichten freundlicher gestalten?«

»Ja. Die Sachen, über die du sprichst, sind alle so deprimierend. Gibt’s denn nichts Erfreulicheres zu berichten?«

»Ich will zusehen, was sich machen lässt, Mutter.«

»Das wäre sehr nett. Übrigens, ich bin diesen Monat ein bisschen knapp bei Kasse. Ob du mir wohl noch mal unter die Arme greifen könntest?«

Danas Vater war vor Jahren verschwunden. Mittlerweile wohnte Danas Mutter in Las Vegas und war ständig knapp bei Kasse. Die monatliche Unterstützung, die Dana ihrer Mutter zukommen ließ, reichte offenbar nie aus.

»Spielst du etwa, Mutter?«

»Selbstverständlich nicht«, versetzte Mrs. Evans entrüstet. »Las Vegas ist eine sehr teure Stadt. Übrigens, wann kommst du denn mal hierher? Ich möchte Kimbal gern kennen lernen. Du solltest ihn mal mitbringen.«

»Er heißt Kemal, Mutter. Ich kann momentan nicht weg.«

Am anderen Ende herrschte einen Moment lang Schweigen. »Du kannst nicht weg? Meine Freunde sagen alle, wie froh du sein kannst, weil du einen Beruf hast, bei dem du nur ein, zwei Stunden am Tag arbeiten musst.«

»Ich nehme an, ich habe eben einfach Glück«, sagte Dana.

Als Nachrichtenmoderatorin trat Dana jeden Morgen um neun Uhr im Fernsehstudio an und brachte den Großteil des Tages am Telefon zu, um sich in internationalen Konferenzschaltungen die neuesten Nachrichten aus London, Paris, Italien und anderen Brennpunkten des Weltgeschehens zu besorgen. In der übrigen Zeit waren Konferenzen angesetzt, bei denen die Nachrichtenblöcke zusammengestellt und beschlossen wurde, was wann und in welcher Reihenfolge ausgestrahlt werden sollte. Immerhin hatte sie zwei Sendungen pro Abend.

»Ist doch schön, dass du so einen angenehmen Beruf hast, mein Schatz.«

»Danke, Mutter.«

»Du kommst doch bald mal vorbei und besuchst mich, nicht?«

»Ja, bestimmt.«

»Ich kann’s kaum erwarten, den süßen kleinen Jungen kennen zu lernen.«

Auch Kemal wird es gut tun, wenn er sie kennen lernt, dachte Dana. Dann hat er auch eine Großmutter. Und wenn Jeff und ich verheiratet sind, hat Kemal wieder eine richtige Familie.

Als Dana auf den Flur ihres Mietshauses trat, kam Mrs. Wharton aus der Tür.

»Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie sich vorgestern Morgen um Kemal gekümmert haben, Dorothy. Ich bin Ihnen dafür sehr verbunden.«

»Hab ich doch gern gemacht.«

Dorothy Wharton und ihr Mann Howard waren vor einem Jahr in das Haus gezogen. Sie waren Kanadier, beide um die fünfzig und ein reizendes Paar. Howard Wharton war Bauingenieur und auf das Restaurieren von Denkmälern spezialisiert.

»Was meine Arbeit angeht«, hatte er Dana eines Abends beim Essen erklärt, »gibt’ s auf der ganzen Welt keine bessere Stadt als Washington. Wo krieg ich denn sonst so viele Aufträge?« Und er hatte die Frage gleich selbst beantwortet. »Nirgendwo.«

»Howard und ich lieben Washington«, hatte ihr Mrs. Wharton anvertraut. »Wir werden niemals wegziehen.«

Als Dana in ihr Büro zurückkam, lag die neueste Ausgabe der Washington Tribune auf ihrem Schreibtisch. Die erste Seite war voller Fotos und Textbeiträge über die Winthrops. Dana schaute sich die Bilder eine ganze Weile an. Ihre Gedanken überschlugen sich. Alle fünf innerhalb von anderthalb Jahren ums Leben gekommen. Unfassbar.

Der Anruf erfolgte über einen Privatanschluss der Geschäftsleitung im Verwaltungshochhaus der Washington Tribune Enterprises.

»Ich habe gerade die Anweisungen erhalten.«

»Gut. Sie warten schon. Was sollen sie mit den Bildern machen?«

»Verbrennen.«

»Allesamt? Die sind Millionen von Dollar wert.«

»Alles ist bestens gelaufen. Wir dürfen keinerlei Anhaltspunkte hinterlassen. Verbrennt sie sofort.«

Olivia Watkins, Danas Sekretärin, meldete sich über die Gegensprechanlage. »Ein Anruf für Sie auf Anschluss drei. Er hat schon zweimal angerufen.«

»Wer ist dran, Olivia?«

»Mr. Henry.«

Thomas Henry war der Rektor der Theodore Roosevelt Middle School.

Dana rieb sich mit der Hand über die Stirn, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, die sich gerade ankündigten. Sie griff zum Telefon. »Guten Tag, Mr. Henry.«

»Guten Tag, Miss Evans. Könnten Sie vielleicht kurz bei mir vorbeikommen?«

»Selbstverständlich. In ein, zwei Stunden bin ich -«

»Ich schlage vor, dass Sie sofort kommen, wenn das möglich ist.«

»Ich komme.«

3

Die Schule war für Kemal eine schier unerträgliche Quälerei. Er war kleiner als die anderen Kinder in seiner Klasse, die Mädchen eingeschlossen, und er schämte sich deswegen zutiefst. »Wicht«, »Stöpsel« und »Mini« lauteten denn auch die Spitznamen, die man ihm gab. Was den Unterricht anging, interessierte er sich ausschließlich für Mathematik und Computer, Fächer, in denen er ständig die besten Noten bekam. Auch im Schachclub seiner Klasse konnte ihm niemand das Wasser reichen. Früher hatte Kemal gern Fußball gespielt, doch als er sich für die Schulauswahl melden wollte, hatte der Trainer nur einen Blick auf seinen leeren Ärmel geworfen und gesagt: »Tut mir Leid, dich können wir nicht gebrauchen.« Die Absage war keineswegs unfreundlich gewesen, aber dennoch ein schwerer Schlag.

Kemals schlimmster Quälgeist hieß Ricky Underwood. Einige Schüler verbrachten die Mittagspause stets in dem umfriedeten Innenhof, statt sich in die Cafeteria zu begeben. Ricky Underwood wartete immer ab, bis er sah, wo Kemal sein Essen zu sich nahm, und gesellte sich dann zu ihm.

»Hey, Waisenjunge. Wann schickt dich denn deine böse Stiefmutter wieder dorthin zurück, wo du herkommst?«

Kemal beachtete ihn nicht.

»Ich rede mit dir, du Krüppel. Du meinst doch nicht etwa, die behält dich, oder? Jeder weiß doch, weshalb sie dich hergebracht hat, du Schafskopf. Weil sie nämlich eine bekannte Kriegsberichterstatterin war und es sich gut machte, wenn sie einen Krüppel rettet.«

»Fukat!«, schrie Kemal. Er sprang auf und stürzte sich auf Ricky.

Rickys Faust traf ihn in der Magengrube, dann im Gesicht. Kemal ging zu Boden, krümmte sich vor Schmerz.

»Du kannst jederzeit mehr kriegen, wenn’s dir noch nicht reicht«, sagte Ricky Underwood. »Aber beeil dich lieber, weil ich nämlich gehört habe, dass es dich nicht mehr lange gibt.«

Kemal war fortwährend zwischen Angst und Zweifeln hin-und hergerissen. Er glaubte Ricky Underwood kein Wort, aber dennoch ... Was war, wenn er Recht hatte? Was ist, wenn sie mich zurückschickt? Ricky hat Recht, dachte Kemal. Ich bin ein Krüppel. Wieso sollte mich jemand, der so wunderbar ist wie Dana, bei sich haben wollen?

Kemal war überzeugt gewesen, sein Leben sei vorüber, als seine Eltern und seine Schwester in Sarajevo umgekommen waren. Er war in ein Waisenhaus am Stadtrand von Paris gebracht worden, und das war der reinste Albtraum.

Jeden Freitag Nachmittag um zwei waren die Jungen und Mädchen in dem Waisenhaus in Reih und Glied angetreten, denn da trafen die in Frage kommenden Pflegeeltern ein, um alle zu begutachten, ein Kind auszusuchen und mit nach Hause zu nehmen. Immer wenn es Freitag wurde, waren die Kinder so aufgeregt und gespannt, dass sie es kaum noch ertragen konnten. Sie wuschen sich, zogen sich ordentlich an, und während die Eltern die Reihe entlanggingen, betete jedes Kind insgeheim darum, dass man es auswählen möge.