Jeff musterte sie einen Moment lang und nickte dann. »Gut.«
Rachel blickte ihm hinterher, als er ins Schlafzimmer ging und seine Sachen packte. Als er zwanzig Minuten später mit seinem Koffer wieder herauskam, war Rachel am Telefon.
»... und ich stehe wieder jederzeit zur Verfügung, Betty. In ein paar Wochen kann ich mich wieder an die Arbeit machen. Ist das nicht wunderbar?«
Jeff stand da und wartete darauf, dass sie sich von ihm verabschiedete. Rachel winkte ihm kurz zu und widmete sich dann wieder dem Telefon. »Ich will dir sagen, was mir am liebsten wäre . ein Fototermin auf einer netten tropischen .«
Rachel wartete, bis Jeff aus der Tür war. Langsam ließ sie den Hörer sinken. Sie ging ans Fenster und schaute zu, wie der einzige Mann, den sie jemals geliebt hatte, von ihr ging.
Immer wieder hörte sie Dr. Youngs Worte. »Miss Stevens, tut mir Leid, aber ich muss Ihnen eine schlechte Nachricht überbringen. Die Behandlung hat nicht angesprochen . Der Krebs hat sich weiter ausgebreitet . Er hat überall Metastasen gebildet. Ich fürchte, dagegen kann man nichts mehr tun ... ein, zwei Monate vielleicht noch.«
Rachel dachte daran, was Roderick Marshall, der Filmregisseur, der sie einst nach Hollywood hatte holen wollen, zu ihr gesagt hatte. »Sie werden noch froh sein, dass Sie gekommen sind. Ich werde Sie zu einem großen Star machen.« Roderick Marshall wäre stolz auf mich, dachte sie, als die mörderischen Schmerzen wieder einsetzten.
In der Gepäckausgabe des Dulles International Airport herrschte dichtes Gedränge, als Danas Maschine in Washington landete. Sie ging an den Laufbändern vorbei auf die Straße und stieg in eins der wartenden Taxis. Nirgendwo waren verdächtig wirkende Männer zu sehen, doch Danas Nerven waren trotzdem bis zum Zerreißen gespannt. Dana holte zur Beruhigung einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und betrachtete sich darin. Mit der blonden Perücke sah sie vollkommen anders aus. Das sollte vorerst genügen, dachte sie. Ich muss zu Kemal.
Langsam schlug Kemal die Augen auf, nachdem er von den Stimmen geweckt worden war, die durch die geschlossene Tür des Arbeitszimmers drangen. Er fühlte sich schlapp und benommen.
»Der Junge schläft noch«, hörte er Mrs. Daley sagen. »Ich habe ihn unter Drogen gesetzt.«
»Wir müssen ihn aufwecken«, erwiderte ein Mann.
»Vielleicht ist es besser, wenn ihr ihn raustragt, solange er noch schläft«, sagte ein zweiter Mann.
»Ihr könnt es doch hier machen«, sagte Mrs. Daley. »Und dann die Leiche wegschaffen.«
Kemal war mit einem Mal hellwach.
»Wir müssen ihn noch eine Weile am Leben lassen. Die wollen ihn als Köder benutzen, um die Evans zu schnappen.«
Kemal setzte sich auf und lauschte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
»Wo steckt sie?«
»Wissen wir nicht genau. Aber sie kommt bestimmt hierher zu dem Jungen.«
Kemal sprang aus dem Bett. Einen Moment lang stand er starr vor Angst da. Die Frau, der er vertraut hatte, wollte ihn umbringen. Pizda! So leicht geht das nicht, schwor sich
Kemal. Ich habe mich in Sarajevo nicht umbringen lassen, ich werde mich auch hier nicht umbringen lassen. Hastig schlüpfte er in seine Kleidung. Als er zu seiner Armprothese greifen wollte, die auf dem Stuhl lag, rutschte sie ihm aus der Hand und landete mit einem lauten Krachen, das Kemal wie Donnerhall vorkam, am Boden. Er fuhr zusammen. Die Männer draußen redeten weiter. Sie hatten offenbar nichts gehört. Kemal schnallte seinen künstlichen Arm an und knöpfte sein Hemd zu.
Eisige Luft schlug ihm entgegen, als er das Fenster öffnete. Sein Mantel hing im Zimmer nebenan, er hatte nur eine dünne Jacke an. Zähneklappernd kletterte Kemal hinaus auf den Fenstersims. Er zog sich auf die Feuerleiter, die zum Boden hinunterführte, duckte sich vorsichtshalber, damit ihn vom Wohnzimmerfenster aus niemand sah, und stieg hinab.
Kemal blickte auf seine Uhr, als er unten angelangt war. Es war Viertel vor drei. Irgendwie hatte er den halben Tag verschlafen. Er rannte los.
»Wir sollten den Bengel auf jeden Fall fesseln.«
Einer der Männer öffnete die Tür zum Arbeitszimmer und blickte sich verdutzt um. »Hey, er ist weg.«
Mrs. Daley und die beiden Männer stürmten ans Fenster und sahen gerade noch, wie Kemal die Straße entlangrannte.
»Schnappt ihn euch.«
Kemal kam sich vor wie in einem Albtraum - seine Knie wurden immer weicher, so als hätte er Gummi in den Beinen. Bei jedem Atemzug hatte er das Gefühl, als stieße ihm jemand ein Messer in die Brust. Wenn ich bis drei bei der Schule bin, bevor das Tor abgesperrt wird, dachte er, bin ich in Sicherheit. Die trauen sich bestimmt nicht, mir was anzutun, wenn all die anderen Kids um mich herum sind.
Vor ihm war eine rote Ampel. Ohne darauf zu achten, stürmte er quer über die breite Straße, wich vorbeifahrenden Autos aus, nahm das wütende Hupen und die kreischenden Bremsen rundum gar nicht wahr. Unversehrt erreichte er die andere Straßenseite und rannte weiter.
Miss Kelly muss die Polizei anrufen, und die beschützt Dana bestimmt.
Kemal geriet allmählich außer Atem, und das Seitenstechen wurde immer schlimmer. Wieder schaute er auf seine Uhr: Fünf vor drei. Er blickte auf. Die Schule war gleich da vorn. Nur noch zwei Querstraßen.
Ich bin in Sicherheit, dachte Kemal. Der Unterricht ist noch nicht aus. Eine Minute später war er am Eingangstor. Er blieb davor stehen und starrte es ungläubig an. Es ist geschlossen. Plötzlich spürte er, wie ihn jemand von hinten mit eisernem Griff an der Schulter packte.
»Es ist Samstag, du Dummkopf.«
»Halten Sie hier«, sagte Dana. Sie waren zwei Querstraßen von ihrer Wohnung entfernt. Dana blickte dem davonfahrenden Taxi hinterher. Langsam lief sie los, suchte angespannt und aufmerksam die Straße ab, achtete ständig drauf, ob ihr irgendetwas ungewöhnlich vorkam. Sie war davon überzeugt, dass Kemal in Sicherheit war. Jack Stone beschützte ihn.
Als Dana an die Ecke des Hauses kam, in dem sie wohnte, ging sie nicht zur Vordertür, sondern begab sich in die Gasse, die zur Rückseite des Gebäudes führte. Kein Mensch weit und breit. Dana ging durch den Hintereingang und stieg leise die Treppe hinauf. Im zweiten Stock angelangt, lief sie den Flur entlang, blieb aber plötzlich stehen. Ihre Wohnungstür stand weit offen. Dana bekam es augenblicklich mit der Angst zu tun. Sie rannte zur Tür und stürmte hinein. »Kemal!«
Niemand war da. Hektisch lief Dana durch die ganze Wohnung, fragte sich, was passiert sein könnte. Wo ist Jack Stone? Wo ist Kemal? In der Küche war eine Schublade herausgefallen und der Inhalt über den Boden verteilt. Dutzende kleiner Schachteln lagen da, leere wie volle. Verwundert hob Dana eine auf und betrachtete sie. BuSpar, stand auf dem Etikett, 15 mg je Tablette. Und dazu das Kennzeichen: NDC DO87 D822-32.
Was war das? Nahm Mrs. Daley etwa Medikamente, oder hatte sie die Kemal gegeben? Hatte das vielleicht etwas mit seinem sonderbaren Verhalten zu tun? Dana steckte eine der Schachteln in ihre Manteltasche.
Verstört stahl sich Dana aus der Wohnung. Sie nahm wieder den Hintereingang, ging in die Gasse und lief zur Straße. Als Dana um die Ecke bog, sprach ein Mann, der sich hinter einem Baum verbarg, über Walkie-Talkie mit seinem Komplizen an der gegenüberliegenden Ecke.
Unmittelbar vor Dana war die Washington Pharmacy. Sie ging hinein.
»Ah, Miss Evans«, sagte die Apothekerin. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja, Coquina. Ich möchte gern wissen, was das ist.« Sie holte die kleine Schachtel heraus.
Die Apothekerin warf einen Blick darauf. »Das ist BuSpar. Man nimmt es gegen Angstzustände. Ein weißes Pulver, das man in Wasser auflöst.«