Der Mann blieb stehen. »Natürlich, mein Junge«, sagte er und gab Kemal einen Dollar.
»Vielen Dank.«
Als der Mann weitergegangen war, schnallte Kemal flugs seinen Arm wieder an. Er sah einen Bus kommen, nur noch einen Häuserblock weit weg. Geschafft!, jubelte er im Stillen. In diesem Augenblick spürte er einen Stich im Nacken, und als er sich umdrehen wollte, verschwamm alles vor seinen Augen. Nein, nein!, schrie Kemal ohnmächtig auf. Dann sank er bewusstlos zu Boden. Schaulustige versammelten sich um ihn.
»Was ist da los?«
»Ist er ohnmächtig geworden?«
»Fehlt ihm irgendwas?«
»Mein Sohn ist Diabetiker«, erklärte ein Mann. »Ich kümmere mich schon um ihn.« Er nahm Kemal auf den Arm und trug ihn zu der bereit stehenden Limousine.
Abbe Lasmanns Wohnung lag im Nordwesten von Washington. Sie war groß und komfortabel, mit modernen Möbeln und weißen Teppichen ausgestattet. Dana, die allein in der Wohnung war, lief nervös auf und ab und wartete darauf, dass das Telefon klingelte. Kemal darf nichts zustoßen. Die haben nicht den geringsten Grund, ihm etwas zu Leide zu tun. Ihm geht’s bestimmt gut. Aber wo ist er? Wieso findet man ihn nicht?
Sie zuckte zusammen, als das Telefon endlich klingelte. Riss den Hörer von der Gabel. »Hallo.« Niemand meldete sich. Wieder klingelte es, und Dana wurde klar, dass jemand sie über Handy zu erreichen versuchte. Sie kam sich mit einem Mal wie erlöst vor. Sie drückte auf den Knopf. »Jeff?«
»Wir haben Sie gesucht, Dana«, sagte Roger Hudson mit leiser Stimme. »Ich habe Kemal hier.«
Dana stand wie erstarrt da, brachte keinen Ton hervor. »Roger -«, flüsterte sie schließlich.
»Ich fürchte, ich habe meine Männer nicht mehr im Griff. Sie wollen Kemals heilen Arm abschneiden. Soll ich sie gewähren lassen?«
»Nein!«, schrie sie. »Was - was wollen Sie?«
»Ich möchte nur mit Ihnen reden«, erwiderte Roger Hudson ruhig. »Ich möchte, dass Sie zu uns kommen, in unser Haus, und zwar allein. Wenn Sie jemanden mitbringen, tragen Sie die Verantwortung dafür, wenn Kemal etwas passiert.«
»Roger -«
»Ich erwarte Sie in dreißig Minuten.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Wie betäubt vor Angst stand Dana da. Kemal darf nichts passieren. Ihm darf einfach nichts passieren. Mit zitternden Händen tippte sie Matt Bakers Telefonnummer ein. Matts Anrufbeantworter meldete sich.
»Sie sind mit dem Büro von Matt Baker verbunden. Im Augenblick bin ich leider nicht zu erreichen, aber wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, werde ich Sie so bald wie möglich zurückrufen.«
Dana wartete den Piepton ab, holte tief Luft und sprach dann ins Telefon. »Matt - ich habe gerade einen Anruf von Roger Hudson erhalten. Er hält Kemal in seinem Haus fest. Ich fahre jetzt dorthin. Bitte beeilen Sie sich, bevor Kemal etwas passiert. Bringen Sie die Polizei mit. Rasch!«
Dana stellte ihr Handy ab und ging zur Tür.
Abbe Lasmann wollte gerade einige Briefe auf Matt Bakers Schreibtisch legen, als sie das blinkende Lämpchen an Matts Anrufbeantworter sah. Sie gab Matts Passwort ein und spielte Danas Mitteilung ab. Einen Moment lang stand sie da und lauschte. Dann lächelte sie und drückte die Löschtaste.
Sobald Jeffs Maschine am Dulles International Airport gelandet war, rief er Dana an. Den ganzen Flug über hatte er an den seltsamen Unterton in ihrer Stimme denken müssen, an das beunruhigende Falls mir irgendetwas zustoßen sollte. Ihr Handy klingelte, ohne dass jemand ranging. Er versuchte es in ihrer Wohnung. Auch dort meldete sich niemand. Er nahm sich ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle ihn zu WTN bringen.
»Ah, Jeff!«, sagte Abbe, als er in Matts Vorzimmer kam. »Schön, Sie wieder zu sehen.«
»Danke, Abbe.« Er ging in Matt Bakers Büro.
»Sie sind also zurück«, sagte Matt. »Wie geht’s Rachel?«
Die Frage brachte Jeff einen Moment lang aus dem Konzept.
»Der geht’s gut«, sagte er tonlos. »Wo ist Dana? Sie geht nicht ans Telefon.«
»Mein Gott«, sagte Matt, »Sie haben nicht die geringste Ahnung was vorgefallen ist, was?« »Sagen Sie’s mir«, erwiderte Jeff mit verkniffener Miene.
Abbe stand im Vorzimmer und lauschte an der geschlossenen Tür. Sie hörte nur vereinzelte Gesprächsfetzen. »... um die Ecke bringen ... Sascha Schdanoff ... Krasnojarsk-26 ... Kemal . Roger Hudson .«
Das genügte ihr. Sie ging rasch zu ihrem Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab. Kurz darauf sprach sie mit Roger Hudson.
Im Büro nebenan hörte Jeff sich unterdessen fassungslos an, was Matt ihm zu berichten hatte. »Das glaub ich nicht.«
»Es stimmt aber«, versicherte ihm Matt Baker. »Dana ist bei Abbe. Ich sage Abbe Bescheid, dass Sie es noch mal in ihrer Wohnung versuchen soll.« Er drückte auf die Taste der Gegensprechanlage, doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er Abbes Stimme.
». und Jeff Connors ist auch da. Er sucht Dana. Ich glaube, Sie sollten sie lieber fortschaffen. Die kommen bestimmt zu Ihnen rüber ... Gut. Ich kümmere mich drum, Mr. Hudson. Wenn -«
Abbe hörte hinter sich ein Geräusch, legte rasch auf, und wandte sich um.
Jeff Connors und Matt Baker standen in der Tür und starrten sie an.
»Sie verlogenes Miststück«, sagte Matt.
Erregt wandte sich Jeff an Matt. »Ich muss sofort zu den Hudsons. Ich brauche ein Auto.«
Matt Baker warf einen Blick aus dem Fenster. »Da kommen Sie nicht mehr rechtzeitig hin. Die Straßen sind völlig verstopft.«
Dann hörten sie den WTN-Hub schraub er, der gerade zur Landung am Heliport oben auf dem Dach ansetzte. Die beiden Männer schauten einander an.
25
Dana hielt draußen ein Taxi an, doch die Fahrt von Abbe Lasmanns Wohnung zum Haus der Hudsons schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, denn auf den spiegelglatten Straßen staute sich der Verkehr an allen Ecken und Enden. Dana war außer sich vor Angst, dass sie zu spät kommen könnte.
»Beeilen Sie sich«, flehte sie den Fahrer an.
Er musterte sie im Rückspiegel. »Junge Frau, ich bin kein Flieger.«
Dana lehnte sich zurück und dachte voller Sorge an das, was ihr bevorstand. Matt müsste ihre Nachricht inzwischen erhalten und die Polizei verständigt haben. Bis ich dort bin, ist die Polizei bestimmt schon da. Und wenn nicht, muss ich sie hinhalten, bis sie eintrifft. Dana öffnete ihre Handtasche. Sie hatte immer noch das Pfefferspray. Gut. Sie wollte es Roger oder Pamela nicht zu einfach machen.
Als sich das Taxi dem Haus der Hudsons näherte, blickte Dana aus dem Fenster und hielt Ausschau nach der Polizei. Nirgendwo war etwas zu sehen. Nicht ein einziger Streifenwagen stand auf der Auffahrt. Sie meinte vor Angst schier ersticken zu müssen. Sie musste daran denken, wie sie das erste Mal hier gewesen war. Wie wunderbar ihr Roger und Pamela vorgekommen waren. Aber sie waren mörderische Monster, voller List und Tücke. Und sie hatten Kemal. Jetzt empfand sie nur mehr abgrundtiefen Hass für sie.
»Soll ich warten?«, fragte der Taxifahrer.
»Nein.« Dana bezahlte ihn, stieg die Treppe zur Haustür hinauf und klingelte. Ihr Herz raste.
Cesar öffnete die Tür. Als er Dana sah, strahlte er. »Miss Evans.«
Und mit einem Mal wurde Dana klar, dass sie einen Verbündeten hatte. Sie bot ihm die Hand. »Cesar.«
Er ergriff sie mit seiner mächtigen Pranke. »Freut mich, Sie zu sehen, Miss Evans«, sagte Cesar.
»Ganz meinerseits.« Und Dana meinte es ernst. Sie war davon überzeugt, dass Cesar ihr helfen würde. Die Frage war nur, wann sie ihn darauf ansprechen sollte. Sie blickte sich um. »Cesar -«
»Mr. Hudson erwartet Sie im Arbeitszimmer, Miss Evans.«
»Gut.« Dies war nicht der richtige Moment.