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Doch jedes Mal, wenn die Pflegeeltern in spe Kemal sahen, tuschelten sie sich zu: »Schau, er hat nur einen Arm.« Und dann gingen sie weiter.

Jeden Freitag lief es auf das Gleiche hinaus, doch Kemal wartete nach wie vor voller Hoffnung, wenn die Erwachsenen die angetretenen Kandidaten musterten. Aber sie suchten immer andere Kinder aus. Geknickt und beschämt stand er da, wenn er wieder einmal übergangen worden war.

Dabei wollte Kemal unbedingt wieder eine Familie um sich haben. Er versuchte alles, was ihm einfiel, damit es ihm gelang. An einem Freitag lächelte er die Erwachsenen strahlend an, um ihnen zu zeigen, was für ein netter, freundlicher Junge er sei. Am nächsten tat er so, als wäre er mit irgendetwas beschäftigt, als wäre es ihm gleichgültig, ob sie ihn auswählten oder nicht, weil sie sich ohnehin glücklich schätzen könnten, wenn sie ihn bekämen. Ein andermal schaute er sie flehentlich an, betete insgeheim darum, dass sie ihn mit zu sich nach Hause nehmen möchten. Aber Woche um Woche wurde immer jemand anders ausgewählt und mitgenommen, bekam ein anderes Kind ein gemütliches Zuhause und eine glückliche Familie.

Wie durch ein Wunder hatte sich dank Dana alles verändert. Sie hatte ihn gefunden, als er sich auf den Straßen von Sarajevo herumgetrieben hatte. Nachdem Kemal vom Roten Kreuz ausgeflogen und zu dem Waisenhaus gebracht worden war, hatte er Dana einen Brief geschrieben. Und zu seiner Überraschung hatte sie nach einer Weile im Waisenhaus angerufen und gesagt, sie wolle Kemal nach Amerika mitnehmen und bei sich behalten. Kemal war in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen wie in diesem Augenblick. Ein Traum war für ihn in Erfüllung gegangen, ja sein neues Dasein übertraf noch seine kühnsten Vorstellungen.

Kemals Leben hatte sich von Grund auf verändert. Jetzt war er dankbar dafür, dass ihn vorher niemand ausgewählt hatte. Er war nicht mehr allein, er hatte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Er liebte Dana von ganzem Herzen, doch ständig trieb ihn auch die schreckliche Angst um, die Ricky Underwood geweckt hatte - dass Dana ihre Meinung ändern und ihn ins Waisenhaus zurückschicken könnte, in die Hölle, der er entronnen war. Ein ums andere Mal plagte ihn der gleiche Traum: Er war wieder im Waisenhaus, und es war Freitag. Die Kinder wurden von den Erwachsenen gemustert, und Dana war auch dabei. Sie betrachtete Kemal und sagte: Der hässliche kleine Junge da hat nur einen Arm. Dann ging sie weiter und nahm den Jungen neben ihm mit. Mit tränen-überströmtem Gesicht wachte Kemal hinterher immer auf.

Kemal wusste, dass Dana es nicht ausstehen konnte, wenn er sich in der Schule mit anderen Kindern anlegte, daher bemühte er sich darum, jedem Streit aus dem Weg zu gehen. Doch er konnte nicht zulassen, dass Ricky Underwood oder seine Freunde Dana beleidigten. Sobald ihnen das klar geworden war, wurden die Beleidigungen nur noch schlimmer - und damit auch die Auseinandersetzungen.

»Hey, Stöpsel, hast du deinen Koffer schon gepackt?«, empfing ihn Ricky zum Beispiel. »Ich habe heute Morgen in den Nachrichten gehört, dass dich deine böse Stiefmutter nach Jugoslawien zurückschicken will.«

»Zobisti!«, brüllte Kemal daraufhin.

Und schon prügelten sie sich miteinander. Jedes Mal kam Kemal zerschrammt und mit blauem Auge heim, aber wenn Dana ihn fragte, was vorgefallen sei, brachte er es einfach nicht fertig, ihr die Wahrheit zu sagen. Denn er hatte Angst davor, dass genau das eintreten könnte, was Ricky Underwood gesagt hatte, wenn er es ihr erzählte.

Nun, da Kemal im Büro des Rektors saß und auf Dana wartete, dachte er: Wenn sie erfährt, was ich diesmal angestellt habe, schickt sie mich bestimmt fort. Wie ein Häufchen Elend saß er da, und das Herz schlug ihm im Halse.

Als Dana in Thomas Henrys Büro trat, ging der Rektor mit grimmiger Miene auf und ab. Kemal saß in der anderen Ecke auf einem Stuhl.

»Guten Morgen, Miss Evans. Nehmen Sie bitte Platz.«

Dana warf einen kurzen Blick zu Kemal und setzte sich.

Thomas Henry ergriff ein großes Schlachtermesser, das auf seinem Schreibtisch lag. »Das hat einer unserer Lehrer Kemal weggenommen.«

Dana fuhr herum und blickte Kemal wütend an. »Wieso?«, fragte sie aufgebracht. »Wieso hast du das zur Schule mitgenommen?«

Kemal blickte zu Dana auf. »Weil ich keine Knarre habe«, versetzte er mürrisch.

»Kemal!«

Dana wandte sich an den Rektor. »Kann ich Sie unter vier Augen sprechen, Mr. Henry?«

»Ja.« Mit verkniffener Miene blickte er zu Kemal. »Warte draußen auf dem Gang.«

Kemal stand auf, warf noch einen Blick auf das Messer und ging.

»Mr. Henry«, setzte Dana an, »Kemal ist zwölf Jahre alt. Und den Großteil seines Lebens hat er beim Einschlafen nichts anderes gehört als das Krachen explodierender Bomben, jener Bomben, die seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester töteten. Der Bomben, die ihm den Arm abrissen. Als ich Kemal in Sarajevo gefunden habe, lebte er in einem Pappkarton auf einem verwilderten Grundstück. Hunderte anderer obdachloser Jungen und Mädchen hausten dort buchstäblich wie die Tiere.« Sie hatte wieder alles vor Augen, bemühte sich aber darum, so ruhig wie möglich weiterzusprechen.

»Inzwischen fallen dort keine Bomben mehr, aber die Jungen und Mädchen sind immer noch obdachlos und ohne jeden Beistand. Ein Messer, ein Stein oder eine Schusswaffe, wenn sie das Glück haben und eine in die Hände bekommen, ist für sie die einzige Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen.« Dana schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. »Diese Kinder sind fürs Leben gezeichnet. Auch Kemal hat Wunden davon getragen, aber er ist ein anständiger Junge. Er muss nur begreifen, dass er hier in Sicherheit ist. Dass ihn hier keine Feinde bedrohen. Ich verspreche Ihnen, dass er so etwas nie wieder tun wird.«

Danach herrschte eine ganze Zeit lang Stille. »Wenn ich jemals rechtlichen Beistand brauchen sollte«, sagte Thomas Henry schließlich, »möchte ich, dass Sie mich verteidigen.«

Dana rang sich ein erleichtertes Lächeln ab. »Ich verspreche es.«

Thomas Henry seufzte. »Na schön. Sprechen Sie mit Kemal. Wenn so was noch mal vorkommt, muss ich leider -«

»Ich rede mit ihm. Vielen Dank, Mr. Henry.«

Kemal wartete draußen auf dem Flur.

»Los, wir fahren nach Hause«, sagte Dana schroff.

»Haben die mein Messer behalten?«

Sie ging nicht darauf ein.

»Tut mir Leid, dass ich dir das eingebrockt habe, Dana«, sagte Kemal auf der Heimfahrt.

»Ach, nicht so schlimm. Immerhin bist du nicht von der Schule geflogen. Schau, Kemal -«

»Okay. Kein Messer mehr.«

»Ich muss wieder ins Studio«, sagte Dana, als sie in der Wohnung waren. »Der Sitter kommt jeden Moment. Und heute Abend müssen wir zwei mal ein ernstes Wort miteinander reden.«

Als die Abendnachrichten vorüber waren, wandte sich Jeff an Dana. »Du wirkst so bedrückt, Liebes.«

»Bin ich auch. Es geht um Kemal. Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll, Jeff. Ich musste heute mit seinem Rektor sprechen, und außerdem haben schon wieder zwei Haushaltshilfen wegen ihm gekündigt.«

»Er ist ein klasse Kerl«, sagte Jeff. »Er braucht bloß ein bisschen Zeit zum Eingewöhnen.«

»Mag sein. Jeff?«

»Ja?«

»Hoffentlich habe ich nicht einen schweren Fehler gemacht, als ich ihn hergebracht habe.«

Kemal wartete bereits, als Dana in ihre Wohnung zurückkehrte.

»Setz dich«, sagte sie. »Wir müssen miteinander reden. Du musst allmählich lernen, dich an die Regeln zu halten, und vor allem müssen diese ewigen Prügeleien aufhören. Ich weiß, dass es dir die anderen Jungs schwer machen, aber du musst dich irgendwie mit ihnen einigen. Wenn du dich weiter mit ihnen herumprügelst, wird dich Mr. Henry von der Schule verweisen.«