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Verdammt noch mal, dachte er. Diese Zeit gehörte ihm allein. Er dachte nicht daran, sie mit irgendjemandem zu teilen. Wichtig war ihm jetzt nur seine Schwester und wie sie sterben würde.

Er begann, wieder zu schwimmen, durchquerte zweimal die Bucht und sah, als er schließlich erneut zum Strand blickte, mit Befriedigung, dass die Person, die ihn in seinem Alleinsein und seinem Frieden gestört hatte, verschwunden war.

Er schwamm ans Ufer und erreichte es außer Atem, nachdem er beinahe das Doppelte der Strecke zurückgelegt hatte, die er sonst morgens schwamm. Taumelnd und schlotternd vor Kälte rannte er aus dem Wasser zu seinem Handtuch.

Der Tee versprach rasche Abhilfe gegen die Kälte, und er goss sich aus der Thermosflasche einen Becher ein. Er war stark und bitter und vor allem heiß, und Guy trank den Becher leer, bevor er seine Badehose auszog und sich ein zweites Mal einschenkte. Jetzt trank er langsamer, trocknete sich dabei ab und rubbelte kräftig, um wieder warm zu werden. Er schlüpfte in seine Hose und ergriff seine Jacke, warf sie sich um die Schultern und setzte sich auf einen Felsen, um seine Füße zu trocknen. Erst nachdem er seine Laufschuhe angezogen hatte, schob er die Hand in die Tasche. Der Stein war noch da.

Er ließ sich das durch den Kopf gehen. Er ließ sich durch den Kopf gehen, was er vom Wasser aus gesehen hatte. Er reckte den Hals und suchte mit den Augen den Hang ab. Nirgends rührte sich etwas.

Er fragte sich, ob das, was er am Strand zu sehen geglaubt hatte, eine Täuschung gewesen war. Vielleicht war es gar kein Mensch aus

Fleisch und Blut gewesen, sondern eine Ausgeburt seines Gewissens. Fleischgewordene Schuld, zum Beispiel.

Er zog den Stein heraus. Noch einmal packte er ihn aus und strich mit dem Daumen über die eingeritzten Initialen. Jeder braucht Schutz, dachte er. Die Schwierigkeit war, zu wissen, vor wem oder was.

Er spülte den Rest des Tees hinunter und goss sich noch einen Becher ein. In weniger als einer Stunde würde die Sonne aufgegangen sein. Er beschloss, diesen Moment heute Morgen abzuwarten.

LONDON

Dezember, 23 Uhr 15

1

Ein Glück, dass man über das Wetter reden konnte. Eine Woche Regen, der kaum einmal länger als eine Stunde ausgesetzt hatte, war schon bemerkenswert, selbst für das, was man vom Dezember gewöhnt war. Und die Tatsache, dass große Teile von Somerset, Dorset, East Anglia, Kent und Norfolk überschwemmt waren — ganz zu schweigen von den Städten York, Shrewsbury und Ipswich, die zu drei Vierteln unter Wasser standen — , verbot praktisch nachträgliche Diskussionen über die Vernissage einer Ausstellung von SchwarzWeiß-Fotografien in einer Galerie in Soho. Man konnte sich doch nicht über die paar Freunde und Verwandte auslassen, die das spärliche Eröffnungspublikum ausgemacht hatten, wenn außerhalb Londons Menschen Haus und Hof verloren, Tausende von Tieren in Sicherheit gebracht werden mussten und überall Grundbesitz zerstört wurde. Eine solche Naturkatastrophe zu ignorieren wäre schlicht unmenschlich.

Das jedenfalls versuchte Simon St. James sich einzureden.

Er war sich bewusst, dass er sich mit solchen Überlegungen nur über etwas hinwegzutäuschen suchte, aber er stellte sie trotzdem an. Er hörte den Wind an den Fensterscheiben rütteln und nahm das dankbar zum Anlass, um einen Versuch zu unternehmen, seine Gäste zum Bleiben zu überreden.

«Warum wartet ihr nicht, bis der Sturm ein bisschen nachlässt?«, fragte er.»Bei diesem Unwetter wird das eine mörderische Heimfahrt. «Er hörte selbst seinen eindringlichen Ton und hoffte, sie schrieben ihn seiner Sorge um ihr Wohlergehen zu und nicht der blanken Feigheit, die tatsächlich dahinter steckte. Dass Thomas Lyn- ley und seine Frau keine drei Kilometer fahren mussten, um nach

Hause zu gelangen, spielte keine Rolle; bei solchem Wetter jagte man keinen Hund auf die Straße.

Aber Lynley und Helen hatten schon die Mäntel an und standen drei Schritte von der Haustür entfernt. Lynley hielt den schwarzen Regenschirm in der Hand, dessen Zustand — er war trocken — verriet, wie lange er und Helen mit den St. James' im Arbeitszimmer am Feuer beisammen gesessen hatten. Zugleich ließ das Befinden Helens — die in diesem zweiten Monat ihrer Schwangerschaft selbst noch abends um elf von so genannter» morgendlicher Übelkeit «geplagt wurde — kaum Zweifel daran, dass der Aufbruch beschlossene Sache war, ob es nun in Strömen goss oder nicht.

St. James wollte die Hoffnung dennoch nicht aufgeben.»Wir haben noch nicht einmal über den Fleming-Prozess gesprochen«, sagte er zu Lynley, der bei Scotland Yard die Ermittlungen in diesem Mordfall geleitet hatte.»Die Sache ist ja schnell vor Gericht gekommen. Das hast du sicher begrüßt.«

«Simon, hör auf«, sagte Helen leise, nahm aber ihren Worten mit einem liebevollen Lächeln die Spitze.»Du kannst nicht ewig ausweichen. Sprich mit ihr darüber. Es ist doch sonst nicht deine Art, den Dingen aus dem Weg zu gehen.«

Es war leider genau seine Art, und hätte seine Frau Helen Lynleys Bemerkung gehört, sie hätte ihr sofort widersprochen. Das Leben mit Deborah war ein unruhiger Fluss voll gefährlicher Unterströmungen, die St. James wo immer möglich umschiffte.

Er warf einen Blick über die Schulter ins Arbeitszimmer. Einzig Kaminfeuer und Kerzen beleuchteten den Raum. Er hätte, dachte er, für mehr Helligkeit sorgen sollen. Unter anderen Umständen hätte man die gedämpfte Beleuchtung wahrscheinlich romantisch gefunden, unter den gegebenen jedoch verbreitete sie Grabesstimmung.

Aber wir haben keinen Leichnam, sagte er sich. Dies ist kein Todesfall. Nur eine Enttäuschung.

Deborah hatte fast zwölf Monate lang auf diesen Abend hingearbeitet. Sie hatte sich quer durch London fotografiert und eine großartige Sammlung schwarz-weißer Charakterporträts zusammengetragen: vom Fischhändler, der sich frühmorgens um fünf in Billingsgate der

Kamera gestellt hatte, bis zum trinkfreudigen Playboy, der um Mitternacht in einen Nachtklub in Mayfair torkelte. Sie hatte die Stadt in ihrer ganzen kulturellen, ethnischen, sozialen und wirtschaftlichen Vielfältigkeit eingefangen und gehofft, die Eröffnung ihrer Ausstellung in einer kleinen, aber renommierten Galerie in der Little Newport Street würde gut genug besucht werden, um ihr eine Erwähnung in einer der Publikationen einzubringen, die gern von Sammlern auf der Suche nach neuen jungen Künstlern zu Rate gezogen wurden. Sie wolle nur eine Spur legen und den Leuten ihren Namen nahe bringen, hatte sie gesagt. Sie erwarte nicht, zu Anfang viel zu verkaufen.

Sie hatte die Rechnung ohne das miserable Wetter gemacht, das den Übergang vom Herbst in den Winter begleitete. Die Regenfälle im November hatten sie nicht sonderlich gekümmert. Um diese Jahreszeit war das Wetter meistens schlecht. Aber als der regnerische November in einen ebenso regnerischen Dezember übergegangen war, hatte sie Bedenken bekommen. Vielleicht, meinte sie, sollte sie die Ausstellung aufs Frühjahr verschieben. Ober sogar auf den Sommer, wenn die Tage lang waren und alle Welt bis spätabends unterwegs war.

St. James hatte ihr geraten, bei ihrer Planung zu bleiben. Niemals, hatte er gesagt, würde das schlechte Wetter sich bis Mitte Dezember halten. Es habe seit Wochen praktisch ununterbrochen geregnet, und das könne, rein statistisch gesehen, nicht mehr lange so weitergehen.