Ich trete zur Seite und so kann auch Albert die Mama respektvoll und herzlich begrüßen. Sie erinnert sich an seinen
früheren Besuch und freut sich, ihn wiederzusehen. Klaus dagegen betrachtet sie etwas misstrauisch. Sie kennt ihn ja noch nicht und mit seiner Kamera sieht er für sie bestimmt etwas gefährlich aus. Bei unserer Unterhaltung übernehmen James und Lketinga die Rolle als Dolmetscher. Ich hole die frisch erstandene Decke und überreiche sie Mama. Doch statt sich zu freuen, zieht sie ein finsteres Gesicht und leicht verunsichert frage ich mich, was ihr wohl nicht passt. Es war ihr unangenehm, erfahre ich später, dass andere Leute sehen, welche Geschenke sie bekommt, weil das nur Neid und Unruhe verursacht.
Um sie aufzuheitern, suche ich in meinem Rucksack das kleine Album mit den Fotos von Napirai, das ich speziell für sie und Lketinga zusammengestellt habe. Beim Einsortieren hatte ich mit den neuesten Fotos begonnen, und je weiter man nach hinten blättert, desto jünger wird Napirai. Sofort lassen sich Mama und Lketinga nieder und schauen sich die Bilder an. Der Vater staunt über seine große Tochter und lacht: „Sie ist ja so lang wie ich.“ Mama fragt bei jedem Foto, ob dies immer noch Napirai sei. Irgendwie kann sie die vielen verschiedenen Situationen, die ich bewusst ausgesucht hatte, nicht richtig einordnen. Doch je jünger Napirai auf den Fotos wird, desto lebendiger wird Mama. Mittlerweile beugen sich zehn oder mehr Köpfe über das kleine Album. Alle wollen Napirai sehen. Auch Papa Saguna, Lketingas älterer Bruder, schaut interessiert zu und lacht einmal herzlich auf, sodass ich seine tadellos weißen Zähne und die strahlenden Augen sehen kann. Als das Foto auftaucht, auf dem meine Tochter mit einigen Ziegen abgebildet ist, wird aufgeregt diskutiert. Bei den letzten Aufnahmen streicht Mama zärtlich über die Bilder und sagt: „Ja, jetzt erkenne ich das kleine Mädchen wieder, meine kleine Napirai.“ Dabei lacht sie mich glücklich an. Nach dem letzten Foto klappt sie das Album zu, versteckt es unter ihrem Kanga und bedankt sich mit den Worten: „Asche oleng.“
Eine große Familie
Nun fordert James uns auf, in sein Haus zu kommen, damit er seine Familie vorstellen kann. Seine Frau habe Chai, den traditionellen, sehr süßen Tee mit Ziegenmilch, vorbereitet. Von Mamas Manyatta sind es nur etwa zwanzig Schritte bis zum Eingang seines bescheidenen Hauses. Davor tummeln sich einige Kinder, die gespannt jeden unserer Schritte verfolgen. Im Eingang erscheint eine hübsche, mollige, junge Frau. James stellt sie als seine Frau, Mama Saruni, vor. Saruni, ein dreijähriges, sehr quirliges Mädchen, ist ihre erstgeborene Tochter.
Eheleute sprechen sich bei den Samburu nie mit dem Vornamen an. Geschieht dies einmal aus Versehen, muss der Sünder dem anderen eine Ziege schenken. Vornamen gelten als etwas sehr Persönliches. Wenn ein Paar noch keine Kinder hat, nennen sie sich „mparatut“ — Ehefrau und „lepayian“ — Ehemann. Sobald ein Kind da ist, wird man von der Gemeinschaft mit Mama oder Papa und dem Namen des Kindes gerufen. Nur wenn jemand nicht anwesend ist, darf man seinen Namen aussprechen. Fremden gegenüber redet man nur über Familiennamen und von wessen Vater und Mutter man abstammt.
Diese seltsame Sitte der Namensnennung bringt mich nun in eine gewisse Verlegenheit, denn ich weiß nicht so recht, wie ich Lketinga anreden soll. Früher nannte ich ihn immer „Darling“, was heute fehl am Platz wäre. Auch
„lepayian“, Ehemann, möchte ich ihn nicht nennen, denn wir sind ja geschieden und ich will keine falschen Erwartungen provozieren. „Papa Napirai“ wäre vielleicht eine Möglichkeit, doch will mir dies kaum über die Lippen. Es wird nicht einfach sein, über zwei, drei Meter Entfernung eine Unterhaltung mit ihm zu beginnen.
Wohl oder übel werden wir immer zueinander hinlaufen, uns anschauen oder uns gegenseitig am Ärmel zupfen müssen, um Aufmerksamkeit zu erlangen und miteinander reden zu können.
James' Frau finde ich auf Anhieb sehr sympathisch. Auf den ersten Blick würde ich sie nicht für eine Samburu halten. Wie James hat sie eine Schule besucht. Sie trägt keinen traditionellen Halsschmuck, sondern eine modische feine Kette aus schwarzen und goldenen Perlen und ihr Haar ist nicht rasiert, wie das bei den Frauen hier üblich ist, sondern auf eine freche, raffinierte Art mit einem Kopftuch geschmückt. Sie ist modern gekleidet mit einem Strick-Twinset und einem dunkelroten Rock. James und sie heben sich vom Rest der Familie ab, als lebten sie in einem anderen Zeitalter. Auf einem Arm trägt sie ihr jüngstes Baby, während sie uns mit der freien Hand begrüßt. Trotz ihres modernen Aussehens wirkt sie schüchtern, denn sie spricht leise und schaut uns nur einen kurzen Moment an.
Wir betreten das Wohnzimmer, einen geräumigen, mit schlichten Holztischen, Stühlen und Hockern eingerichteten Raum. Die Wände sind mit unterschiedlichsten Dingen dekoriert. Neben zwei Hochzeitsbildern, auf denen James wie ein traditioneller Krieger geschmückt zu sehen ist, hängt ein Bild von ihm, das ihn mit dunklem Anzug und Krawatte zeigt. Was für Gegensätze! Ein Foto von einigen kenianischen Ministern, ein riesiges Poster der brasilianischen Fußballmannschaft und ein an einen Nagel gesteckter Teddybär neben einem christlichen Kreuz an der Wand bilden Kontraste, die mich innerlich schmunzeln lassen. Mit mitteleuropäischen Augen betrachtet, wirkt alles sehr spärlich und teilweise komisch. Wenn ich mich allerdings an unser Leben in der Manyatta erinnere, kommt mir dieser Raum nahezu feudal vor.
Ich setze mich auf einen der Schemel und Lketinga lässt sich an der anderen Seite des Tisches nieder. Er schlägt seine langen Beine übereinander und umfasst mit seinen schlanken Händen den dünnen Stock, ohne den er nirgendwo hingeht. Er ist wohl eine Art Speerersatz. Seine ganze Art wirkt würdevoll und irgendwie auch feminin. Ich bin sehr froh, ihn in so guter Verfassung zu sehen, denn schließlich ist und bleibt er der Vater meiner Tochter, und sie soll stolz auf ihn sein. Er schaut mich unentwegt an.
Mein Blick schweift durch das Zimmer, während James' Frau Teetassen aus Emaille und Thermoskannen auf den Tisch stellt. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Thermoskannen! Auf diese Weise können sie den zubereiteten Tee lange warm halten. In diesem Fall erweist sich Plastik als wirklicher Fortschritt! Feuerholz ist rar, und wenn ein Feuer schon mal brennt, können sie den Tee gleich für den ganzen Tag aufbrühen, ohne nochmals Holz zu verschwenden.
Während ich mich mit Lketinga unterhalte, führt James mit Albert, Klaus und unseren staunenden Fahrern ein Gespräch. Neben Lketinga kauert sein älterer Bruder an der Wand und hört dem ungewohnten englischen Wortschwall zu. Ich bitte Lketinga, ihm zu übersetzen, dass ich Saguna so gerne sehen und ihr persönlich mein Geschenk überreichen würde. Papa Saguna erklärt, dass seine Tochter täglich mit den Kühen unterwegs ist. Er werde aber morgen nach Hause zurückkehren und sie beim Hüten der Kühe ablösen, damit Saguna übermorgen hierher kommen kann. Ich freue mich sehr, das kleine Mädchen von damals wiederzusehen. Mit Mama und mir wohnte sie in derselben Manyatta. Am Anfang hatte sie Angst vor meinem weißen Gesicht. Später dagegen wurde sie jedes Mal vor Sehnsucht krank, wenn ich für ein paar Tage wegen einer Einkaufstour unterwegs war und aß erst wieder, wenn ich zurückkam. Wenn ich zum Fluss ging, um Wasser zu schöpfen oder Kleider zu waschen, nahm ich sie manchmal mit. Dann badete sie in einer Pfütze und quietschte vor Vergnügen. Einmal brachte ich ihr aus der Schweiz eine braune Puppe mit, die anfänglich bei den Dorfbewohnern beinahe einen Aufstand verursachte, da sie dachten, es handle sich um ein totes Baby. Nun bin ich sehr gespannt, wie Saguna heute aussieht und ob sie sich noch an mich erinnern kann.